Architekt und ETH-Professor Gion A. Caminada über Haltung und Bedeutung. Und darüber, ob er in Vrin gescheitert ist. („Quer“ Nr.03/2016)
Fast schüchtern sitzt er an einem Ecktischlein im Churer Café Maron. Er begrüsst mit leiser Stimme und bietet im breiten Graubündner Dialekt sofort das Du an. Gion A. Caminada gehört zu den bekanntesten Architekten des Landes. Über die Grenzen hinaus einen Namen machte er sich durch seine Arbeiten in seinem Bündner Heimat-, Wohn- und Arbeitsort Vrin. In den 1980er Jahren wurde das abgelegene Dorf in der Surselva zum Modellort, wo versucht wurde, mit Genossenschaftsbildungen, Landzusammenlegungen sowie siedlungsplanerischen und architektonischen Massnahmen (aus Caminadas Kopf) dem Dorf eine Perspektive zu schaffen und die Abwanderung zu stoppen. Als «Wunder von Vrin» (Spiegel) wurde das Dorf international bekannt und Caminada als Kompetenz für die nachhaltige Dorfentwicklung gefragt. Seit 2008 ist Caminada Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich, Daneben realisiert er nach wie vor und mit festem Fokus auf die Bergregion neue Projekte. Ein Gespräch mit einem Berggeist.
«Quer»: Wir treffen uns in einem Churer Café. Haben Sie hier schon einmal gebaut?
Gion A. Caminada: Nein, nie.
Würden Sie gerne im städtischen Kontext zu bauen?
Sicher. Aber ich habe mich nie darum bemüht. Und ich wurde bisher nicht dafür angefragt. Es ist die schönste Aufgabe, in der Umgebung zu bauen, in der ich lebe.
Sie lehren an der ETH Zürich, Sie reisen für Vorträge, Diskussionen und Expertisen um die halbe Welt. Wie viel Bergler steckt noch in Ihnen?
Ich bin viel in Vrin, fast immer eigentlich. Als Kosmopolit, wie ich mich bezeichne, habe ich eine spezielle Methode, die Welt zu durchwandern. Der Kosmopolit weiss, wie die Welt um ihn herum funktioniert, hat aber im Gegensatz zum Globalisten, der überall ist und nirgends, einen spezifischen Fussabdruck an einem Ort. Ich bin immer mit mindestens einem Fuss in Vrin, in den Bergen, geblieben.
Vrin war Ihr «Labor», wie Sie es selbst einmal nannten. In den 1980er und 90er Jahren wurde das Dorf zu einem Modellprojekt, um im abgelegenen Bergdorf eine Perspektive zu entwickeln und die Abwanderung zu stoppen. Sie waren das architektonische Hirn dieses Projekts. Fragt man heute auf der Verwaltung nach, so meldet die: 216 Einwohner in Vrin. Weniger denn je.
Es ist so. Das Vorhaben, die Abwanderung zu stoppen, ist in Vrin gescheitert.
War die Mühe umsonst?
Nein, denn dass die Bevölkerungszahl weiter sinken würde, hat man eigentlich von Anfang an gewusst. Früher hatte jede Familie acht, neun, zehn Kinder, heute zwei, drei. Die Rechnung ist einfach. Es ging uns viel mehr um die Qualitäten des Orts, die man erhalten und in eine bestimmte Richtung weiter entwickeln wollte. Wir haben dadurch eine Zersiedelung und den Bau von mehr Zweitwohnungen verhindert. Dafür hat sich die Arbeit gelohnt.
Würden Sie heute in Vrin etwas anders machen?
Darüber habe ich mir eine Zeitlang intensiv Gedanken gemacht. Heute glaube ich, es war in jener Zeit das möglich, was wir getan haben. Und mir war das möglich, was ich getan habe. Besser konnte ich es nicht. Vielleicht werde ich das in 20 Jahren auch über die Dinge sagen, die ich heute mache. Man bewegt sich stets innerhalb einer gewissen Zeit, mit bestimmten Gegebenheiten und Möglichkeiten.
Sie sagten letztes Jahr, Vrin stehe einmal mehr am Scheideweg, es seien neue Ideen gefragt. Welche?
Wir versuchen weiterhin, neues Handwerk in den freigewordenen Räumen des alten Schulhauses anzusiedeln. Daneben sehe ich vor allem im Nationalparkprojekt Adula das Potenzial, dem Dorf und der ganzen Schweiz einen neuen Impuls zu geben. Denn anders als früher betrachte ich den Park heute als nationales Projekt.
Was macht den Park zum nationalen Projekt?
Die Gelegenheit, in einem grossen zusammenhängenden Gebiet eine neue Art von Beziehung zwischen Natur und Kultur zu entwickeln. In Arbeiten, die wir an der ETH Zürich zum Thema gemacht haben, sprechen wir von einer Art «Deckungsgleichheit von Natur und Kultur», die es grundsätzlich anzustreben gilt. Demgegenüber beobachten wir heute vor allem Extrempositionen: Die einen wollen nur schützen, die anderen nur Profit machen. Beide braucht es nicht. Eine neue und starke Beziehung würde dazu führen, dass eine natürliche Bereitschaft entsteht, für das Gebiet und damit auch dessen Schutz Verantwortung zu übernehmen.
Sie haben den Begriff der «Wiederversöhnung mit der Natur» verwendet, für die sie die Zeit gekommen sehen.
Versöhnung ist ein etwas heikler Begriff, denn ein Stück weit stehen wir ja immer im Kampf mit der Natur. Nur Menschen, die im Überfluss leben und die Natur auf Distanz halten, empfinden diese als nur romantisch. Wer in einer direkteren Beziehung zur Natur steht, hat ein anderes Bild. Dennoch: Moderne technische Errungenschaften bieten uns grosse Erleichterungen. Auch dank ihnen glaube ich, könnte die Zeit gekommen sein für einen neuen Schritt.
Sie haben immer betont, es gebe kein Rezept Vrin, das man beliebig auf andere bedrohte Orte anwenden könne. Aber eine entsprechende Haltung durchaus. Was macht diese Haltung aus?
Es ist die Haltung, das Spezifische eines Ortes verstärken zu wollen. Ihr zugrunde liegt die Überzeugung, dass eine kulturell und entsprechend auch architektonisch differenzierte Welt schön und wertvoll ist. Durch bewusste Differenzbildung, also die Herausarbeitung und Verstärkung der jeweils spezifischen Andersartigkeit, entstehen starke Orte, die identitätsstiftend sind. Das ist das Ziel.
Was braucht es dazu?
Vor allem die Bereitschaft, die einem Ort, einem Ensemble, zugrunde liegenden Bedeutungszusammenhänge erkennen und verstehen zu wollen.
Wie ist das zu verstehen?
Ein Ensemble ist mehr als nur ein Bild. Ein Bild ist für sich alleine etwas Oberflächliches. Auch ein Ortsbild. Früher stand bei der baulichen Entwicklung weniger das Ortsbild im Fokus, als vielmehr die Funktionen und Bedeutungen von Bauten. Im Zusammenspiel führten sie dann zu einem Bild. Wir müssen wieder vermehrt über solche Bedeutungszusammenhänge als Ursache hinter den Bildern reden. Jedoch haben wir dazu nur noch selten die Möglichkeit.
Weshalb?
Im klassischen Dorf existierte eine Gleichzeitigkeit von Arbeiten und Wohnen. Es bestanden dadurch umfassende Beziehungen im und zum Ort, aus denen Bedeutung hervorging. Die wunderbare Theorie von Henri Lefebvre für die Produktion von guten Orten besagt: Es brauche zunächst eine Produktion von Produkten. Daraus gehe eine Produktion von Wissen hervor – und schliesslich eine Produktion von Bedeutung. Heute wird in den Dörfern nur noch wenig gearbeitet. Die Produktionen sind weit weg. Übrig bleiben reine Wohndörfer.
Alejandro Aravena sagte jüngst in einem Interview, er sei dankbar für eine gewisse Knappheit der Mittel in seinem Heimatland Chile. Denn Überfluss könne zu einem Mangel an Bedeutungsgehalt führen. Würden Sie das unterschreiben?
Ja. Denn für die spezifische Differenzbildung an einem Ort ist eine gewisse Knappheit der Mittel wichtig. Es ist die Grundidee von Lévi-Strauss‘ Bricolage, dass dem Bricoleur nur eine bestimmte Menge und Art von Werkzeug sowie eine bestimmte Menge und Art von Material zur Verfügung steht, um tätig zu werden. Sind die Ressourcen beschränkt, ist Erfindergeist nötig. Das gefällt mir. Ich versuche deshalb stets, den Perimeter einzuschränken, indem ich etwa nur Material und Handwerk aus einem bestimmten Gebiet verwende. Manche sagen dann, ich sei ein Idiot, mich derart selbst zu beschränken und auf Optionen zu verzichten. Ich sehe darin viel Handlungsraum, aber keinen Verzicht.
Welche Umstände müssen gegeben sein, dass Sie ein Projekt interessiert?
Es muss eine übergeordnete Idee vorhanden sein. Die Ziele müssen ein bisschen anders angelegt und formuliert sein, als einfach im Wunsch nach Ästhetik oder einem schönen Gebäude.
Sie haben im Bergdorf Valendas das historische Engihuus zum Gasthaus am Brunnen umgebaut und erweitert. Das Haus hat in den letzten zwei Jahren seit Eröffnung viel Resonanz erzeugt. Zunächst aber wollten Sie das Projekt nicht übernehmen. Weshalb?
Es hat mich einfach nicht so sehr interessiert. Zudem war die Substanz des Gebäudes wirklich schlecht.
Was hat Sie umgestimmt?
Dass in Valendas eben diese übergeordnete Idee vorhanden war. Mehrere aktive Gruppierungen von ortsansässigen sowie auswärtigen Menschen wollten in dem historisch sehr spannenden Dorf etwas bewegen. Es ging darum, ein Haus mit einem Raum zu schaffen, an dem sich die Gemeinschaft wieder aktiv treffen und begegnen kann. Solche Aufgaben interessieren mich sehr.
Wann ist ein Projekt ein Erfolg?
Ich möchte nicht Architektur machen, die provoziert. Aber ich möchte Architektur machen, die ein bisschen irritiert. Wenn Architektur ein wenig neugierig macht, kann etwas in Gang kommen. Vielleicht auch etwas Unverhofftes. In Valendas haben wir angestrebt – und das ist uns gelungen – mit dem Haus einen Ort zu schaffen, den die Leute im Dorf, aber auch viele Auswärtige, wertschätzen. Hinzu kam nun das Glück, dass wir einen wunderbaren Koch gefunden haben, der den Begegnungsort mit kulinarischen und gastgeberischen Aspekten abrundet.
Wo beginnt bei Ihnen ein Entwurf?
Am Anfang steht eine Idee. Eine Idee als etwas Übergeordnetes, das alles zusammenhält. Eine starke Idee gibt einem Vorhaben eine ganz klare Ausrichtung, lässt aber gleichzeitig genügend Seitenwege offen, um ans Ziel zu kommen. Das ist entscheidend.
Fällt einem eine solche Idee zu – oder erarbeitet man sie sich?
Man muss versuchen, sie aus einem spezifischen Ort heraus zu gewinnen. Zunächst gilt es die Kraft, eben jenes Spezifische zu erfassen, die einen Ort ausmacht – und dieses dann zu stärken versuchen.
Ist also alles schon am Ort vorhanden?
Das ist ein Aberglaube, dem viele Architekten nachhängen. So ist es überhaupt nicht. Alles ist Erfindung, alles entsteht in unserer Vorstellung, auch das, was wir sehen wollen. So betrachtet gibt es auch nicht das Richtige oder das Falsche, sondern nur gute oder weniger gute Varianten innerhalb einer bestimmten Intention, um mit Mitteln und Ressourcen umzugehen. Aber das sind keine absoluten Grössen.
Mit pointierten Voten beklagen Sie bisweilen, dass das Wissen abhanden gekommen sei, basierend auf ortsvorhandenen physikalischen Grundlagen energietisch sinnvoll zu bauen. Jüngst haben Sie Minergiehäuser beispielsweise als hochgedämmte Hüllen mit Beatmungsgerät bezeichnet.
So ist es doch. Man braucht sich mit solchen Bauten wirklich nicht mehr um Wind und Wetter an einem Ort zu kümmern. Man sucht sich ein beständiges Material, isoliert es dick, installiert Heizung und Lüftung, fertig. Technisch ist das gut machbar.
Was spricht dagegen?
In der Auseinandersetzung mit dem Thema an der ETH, aus der nun ein Buch hervorgehen wird, haben wir realisiert, dass hochgedämmte und zwangsbelüftete Wohnungen irgendwie, wie soll ich sagen, enorm flach und langweilig sind. Es stellt sich deshalb die Frage, ob mit anders gelagerten Bauten, die energetisch ebenso gut funktionieren, die Sinnlichkeit bei den Bewohnern wieder etwas mehr berührt werden könnte. Als Inputgeber erhoffe ich mir hierzu einiges von dem Buchprojekt.
Gemäss einer Plattform des Bundesamts für Energie wäre die Adresse «Am Platz 19, Valendas» – es ist jene des Gausthauses am Brunnen – ein «sehr gut» geeigneter Standort für eine Solaranlage. Sie haben sicher eine aufs Dach montiert, oder?
(lacht) Ich bezweifle, dass sich das Dach derart gut eignet. Im Ort gibt es während zwei Monaten im Jahr keine direkt Sonneneinstrahlung. Ich bin ohnehin der Meinung, dass wir viel zu viel Strom brauchen. Darüber sollten wir uns Gedanken machen, bevor wir festlegen, dass jedes Haus sein eigenes Kraftwerk sein muss. Ich finde das absurd.
Was finden Sie absurd?
Ein bekannter Mann aus der Solarbranche hat mir kürzlich gesagt, in Zukunft brauchen wir keine Architekten mehr, sondern nur noch Ingenieure. Und genau in diese Richtung läuft es doch. Dadurch geht aber die ganze Idee von Diversität und Vielfalt verloren, die mir so wichtig erscheint. Es führt zu einer Produktion von Haustypen, die irgendwo entwickelt, gefertigt und dann verteilt werden. Es kann ja nicht sein, dass all diese standardisierten Kraftwerkhäuser hingebungsvoll aus den jeweiligen Orten heraus entwickelt werden. Wenn wir schon von Nachhaltigkeit reden – was ich bewusst nicht mache – dann ist dies etwas komplexer als die Reduktion auf das Gerede über den Stromverbrauch.
Sie sprechen ohnehin lieber über Suffizienz, als über Effizienz. Was macht Sie zuversichtlich, dass die Leute bereit sind, ihr Verhalten zu ändern?
Ich bin kein Technik-Gegner. Im Gegenteil. Technik ist oftmals eine grossartige Errungenschaft. Dass wir leistungsfähige und effiziente Technik brauchen, ist völlig klar. Ich fände es allerdings wertvoll, wenn eine Suffizienz spürbar würde, in der nicht der Verzicht im Vordergrund steht, sondern das Erkennen neuer Qualitäten in anderen, massvolleren Verhaltensweisen. Ich sehe heute viele, auch sehr moderne Menschen, die für sich solche Qualitäten entdeckt haben – und nicht mehr ohne diese leben wollen.