Singapur zählt zu den dichtesten urbanen Gebieten weltweit. Das macht den dynamischen Inselstaat zum beliebten Forschungsplatz für Stadt- und Gebäudeentwickler. Mittendrin: Die ETH Zürich. („Quer“ Nr.05/2017)
Als Singapur vor gut 50 Jahren die Unabhängigkeit von der Malaysischen Föderation erlangte, war das zugleich der Startschuss für eine erstaunliche Hors Sol-Stadtentwicklung. Die herausfordernden Zutaten des werdenden Landes auf einer gerade einmal 50 auf 26 Kilometer grossen Hauptinsel: Wenig Platz, keine Rohstoffe, ein Hafen, eine chinesisch stämmige Bevölkerungsmehrheit inmitten eines ursprünglich malaiischen Kulturraums, darunter viele ungebildete Arbeitskräfte. «Zu einer Nation musste die zusammengewürfelte Bevölkerung erst gemacht werden», schrieb die NZZ-Korrespondentin im vergangenen Jahr treffend.
Dirigent dieses «nation building» war Staatsgründer Lee Kuan Yew, der 2015 im Alter von 92 Jahren verstarb. Während Jahrzehnten prägten er und seine People’s Action Party die Entwicklung des jungen Staates mit einer weitsichtigen Infrastrukturentwicklung sowie einer fürsorglichen aber zugleich restriktiven Gesellschaftspolitik. Während etwa das Glücksspiel noch bis nach der Jahrtausendwende verboten war, wurde in Singapur bereits in den 1960er Jahren verdichtet und verkehrstechnisch effizient gebaut. Das knappe Land zwang in die Höhe. Seither wurde die Insel zwar durch Aufschüttungen um über 20 Prozent vergrössert – und soll in den nächsten 15 Jahren um nochmals 10 Prozent wachsen. In derselben Frist rechnet die Regierung – angeführt von Staatsgründer Lees ältestem Sohn – mit einem Bevölkerungswachstum von 5,5 auf 6,5 Millionen Einwohner. Entsprechend hoch bleibt der Verdichtungsdruck in einem der bereits heute höchstverdichteten urbanen Gebieten der Welt.
Da der Regierung zugleich das Entwicklungsziel einer «City in a Garden», mit zahlreichen Naherholungsgebieten und einem intakten Ökosystem vorschwebt, bietet sich der Stadtstaat als attraktives wissenschaftlichen Labor zur Erforschung von Fragestellungen rund um die urbane Entwicklung an. Entsprechende Forschungen finanziert der Staat üppig mit und profitiert so direkt von teils massgeschneiderten Lösungen für Singapurer Gegebenheiten. Angesichts von UN-Prognosen, wonach bis 2050 70 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten leben wird, werden jedoch auch andere Staaten und Städte von den Erfahrungen aus dem Labor Singapur profitieren können.
Zweite Runde
Einen Platz im südostasiatischen Labor hat sich vor geraumer Zeit auch die ETH Zürich gesichert. 2010 eröffnete sie zusammen mit der nationalen Forschungsstiftung – die direkt von Regierungschef Lee geführt wird – mit dem Singapore-ETH Centre den einzigen ETH Forschungsstandort ausserhalb der Schweiz. Auf dem Campus sind weitere Forscher international renommierter Hochschulen präsent und treiben in den Bereichen menschliche Systeme, Energie- und Umweltsysteme sowie städtische Systeme ihre Projekte voran.
Als erstes Projekt der ETH-Präsenz wurde 2010 das Future Cities Laboratory (FCL) ins Leben gerufen. Das FCL entwickelte sich in den ersten fünf Jahren seines Bestehens zu einem internationalen Kompetenzzentrum für die akademische Forschung zu Stadtformen, -technologien und -prozessen, das laut einer ETH-Mitteilung Forschende aus über 30 Ländern anzog. 2015 sprach die Singapurer Forschungsstiftung die Finanzierung für die nächsten fünf Jahre. Ganz unter dem Motto der nachhaltigen urbanen Entwicklung sollen in dieser zweiten Runde am FCL rund 100 Architektinnen, Designer, Stadt- und Verkehrsplanerinnen, Ingenieurinnen, Informatiker, Umweltwissenschaftler, Psychologinnen und Stadthistoriker zusammenkommen, um sich in zwölf Projekten von Energiesystemen über die Implementierung von Grünflächen bis zur Lärmminderung mit Konzepten der guten Stadtentwicklung auseinanderzusetzen.
Drei Geschosse für zwei
Eines der frühen – und andauernden – Projekte am FCL ist «3for2». Ein interdisziplinäres Team aus Architekten, Ingenieuren und Designern unter der Führung von Arno Schlüter, ETH Professor für Architektur und Gebäudesysteme, entwickelt und implementiert im Projekt neue Technologien und Konstruktionen, um die Klimatisierung von Gebäuden energieeffizienter, platzsparender und insgesamt kostengünstiger zu lösen.
Damit nimmt das Team den Top-Energiefresser im Singapurer Gebäudepark ins Visier: die Klimaanlage. Sie ist im tropischen Stadtstaat für gegen 70 Prozent des Energieverbrauchs im Gebäudepark verantwortlich. Und in die Gebäude fliessen rund 50 Prozent allen in der Stadt verbrauchten Stroms. Bis anhin ist die Motivation für Investoren klein, um in bessere Klimatechnologie zu investieren. Da nicht sie es sind, die in der Betriebsphase für die Stromkosten aufkommen müssen, lohnt sich für sie auch das Stromsparen nicht.
Hier setzt das «3for2»-Projekt an: Der neue Ansatz soll nicht nur Energieeinsparungen in der Klimatechnik erzielen, sondern zugleich die Baukosten senken sowie durch schlankere Konstruktionsweise Flächengewinne ermöglichen. Das Projekt schafft also Kollateralnutzen für Investoren, um in sparsamere Technologie zu investieren. Seit Anfang 2016 wird das System in einem Neubaugebäude des United World College in Singapur auf 500 Quadratmetern Fläche unter «real life»-Bedingungen getestet und weiterentwickelt.
Flächengewinn bis 30 Prozent
Ausser der schiffsähnlich nach vorne geneigten Glasfront des College-Gebäudes will dem Betrachter der Pilotanlage von aussen nichts Spezielles auffallen. Kein Wunder, denn das Kernstück liegt in der grundlegenden Neukonzeption der Klimatechnik. Während herkömmliche Klimaanlagen Luft auf bis zu 6 Grad Celsius herunterkühlen, um sie gleichzeitig zu entfeuchten, hat das «3for2»-Team den Kühl- und Entfeuchtungsprozess getrennt. Frischluft für das System wird über mehrere Fassadenöffnungen angesaugt – und entfeuchtet, indem das System Feuchtigkeit und etwas Wärme an gleichzeitig ausströmende Luft abgibt. Für die Kühlung wird anstelle von Luft auf Wasser gesetzt. Dieses leitet die Wärme besser ab und ermöglicht kleinere Leitungsquerschnitte. An Kühlsegeln an der Decke kühlt sich die warme aufsteigende Luft ab, sinkt an den Rändern wieder zu Boden und erzeugt so einen sanften Temperaturwirbel. Das funktioniert bereits mit einer Segeltemperatur von 17 bis 19 Grad Celsius. Gegenüber konventionellen Anlagen hat der Prozess gemäss Industriepartner Siemens den Vorteil, dass er leiser ist, die Verteilerwege kürzer ausfallen, sich die Frischluft genauer dosieren lässt und diese «nicht erst winterlich abgekühlt werden» muss.
Das System, gepaart mit sensorgesteuerten LED-Beleuchtungen sowie beispielsweise auch die geneigte Fensterfront, die die Sonneneinstrahlung reduziert, ermöglicht Energieeinsparungen. Zugleich nimmt das System durch seinen schlankeren Aufbau weniger Platz in den Geschossdecken ein. Im Extremfall soll das bei hohen Bürotürmen zu einem Nutzflächengewinn von bis zu 30 Prozent führen. Das hiesse: Auf der Höhe von zwei konventionellen Stockwerken könnte ein zusätzliches Geschoss eingeplant werden. «3for2» eben. Das läpperte sich bei Wolkenkratzern.
Bereits wenige Wochen nach Inbetriebnahme des Pilotbüros am United World College liess Industriepartner Siemens erste Erfolgsmeldungen verlauten. Mit einem Energieverbrauch von rund einem Drittel eines durchschnittlichen Bürogebäudes gehöre es bereits zu den Besten in Singapur. Und durch weitere Optimierungen soll der Verbrauch um zusätzliche 20 bis 40 Prozent gesenkt werden, hiess es. Auch das FCL titelte die Medienmitteilung zur Eröffnung der Pilotanlage im Januar 2016 selbstbewusst: «Milestone in Developing Singapore’s Most Energy-Efficient Office by 2018».
Gute Verbrauchswerte
Heute, ein Jahr nach Inbetriebnahme der Pilotanlage, zieht Projektleiter Arno Schlüter auf Anfrage von «Quer» eine positive Zwischenbilanz. Der Betrieb des Gebäudes sei dank sehr intensiver Begleitung bei der Umsetzung von Anfang an recht problemlos gelaufen. Die Rückmeldungen der Nutzer seien positiv und die angepeilten Energieverbrauchswerte hätten sich in umfangreichen Messungen bestätigt. Die nächsten Schritte, um den Verbrauch noch weiter zu senken, seien in vollem Gange. Optimierungen seit Start der Pilotanlagen sind vor allem durch Kalibrierung der Klimasysteme sowie der dem Tageslicht nachgeführten Steuerung der Beleuchtung gelungen. Aber auch in der Hardware gibt es Evolutionsstufen: Nach Abschluss des ersten Testjahres begann etwa die Installation einer neuen, in der Schweiz hergestellten Kältemaschine. Auch dank ihr, so Schlüter, werde man einen weiteren Schritt zur Reduktion des Energiebedarfs machen können.
Mit einer markanten Verbesserung der Energieeffizienz gegenüber konventionellen Klimaanlagen konnte durchaus gerechnet werden. Im Vergleich zu den Energiegewinnen fallen die Resultate bei der Senkung der Konstruktionskosten sowie den Flächengewinnen, mit denen die Investoren ins Boot geholt werden sollen, indes bescheidener aus. «Tatsächlich sparen wir Flächen für die Installation sowie Konstruktionskosten ein. Diese ökonomischen Zugewinne sind im Verhältnis zu den gesamten Kosten jedoch marginal», so Schlüter. Dennoch: Die höheren Investitionskosten für die effizienten Klimasysteme würden bereits nach fünf bis neun Jahren wieder eingespielt. Dies hauptsächlich durch höhere Erträge der Flächen, die aufgrund von maximalen Raumhöhen durch die schlankere Konstruktionsweise deutlich teurer vermietet und besser ausgelastet werden können, betont Schlüter. Und dies sowohl im Neubau wie auch bei Sanierungen. Weiterführende Erkenntnisse will Schlüter im Verlaufe des Jahres präsentieren. Im Herbst würde dazu eine ganze Reihe wissenschaftlicher Beiträge publiziert, sagt er.
So bleibt vorderhand die nicht streng wissenschaftliche Frage an den zukunftsgewandten Professoren für Architektur und Gebäudesysteme: Welche Rolle spielen denn Architektur und Architekten überhaupt im effizienten Gebäude der Zukunft?
«Der Architekt ist mehr denn je derjenige, der die verschiedenen Aspekte eines Gebäudes in Einklang bringen muss», sagt Schlüter. Energie- und Klimasysteme würden einen immer grösseren Stellenwert einnehmen. Deshalb müssten Architekten deren wesentlichen Parameter, sowie deren Wechselwirkung mit dem Entwurf, der Konstruktion und nicht zuletzt den Nutzern kennen und berücksichtigen können. «Bei aller Effizienz müssen aber letztlich lebenswerte Gebäude entstehen, die den Menschen darin gerecht werden. Damit ist direkt die Architektur angesprochen». so Schlüter. In Singapur, wie anderswo.