Massimiliano Marcanio, 33, Dachdecker, ist bei der Scherrer metec AG Bindeglied zwischen Büro und Baustelle. Autoritäres Obermotz-Gehabe ist nicht sein Ding. Lieber lässt er Taten sprechen. (die baustellen Nr. 10/2010)

Sie öffnete das Fenster, schaute hinaus und fragte halb verwundert und halb erschrocken, was ich da mache. Ich – gesichert mit Seil und Klettergurt, war gerade dabei, eine Regenrinne zu reinigen – schaute sie an und sagte: Ich breche bei ihnen ein. Herzlichen Dank, dass sie mir das Fenster gleich selbst öffnen. Es ist unglaublich, was ich in 18 Jahren auf dem Bau und auf den Dächern dieses Landes alles erlebt habe. Ich habe, ehrlich ungewollt, zahllose nackte Menschen durch ihre Fenster gesehen. Habe Männer gesehen, die frühmorgens das Licht anknipsten und sich als erstes einen Porno anschauten. Und dann höre ich Dinge: Wenn wir auf Dächern arbeiten, sind sich die Passanten unten auf der Strasse oftmals gar nicht bewusst, dass sich jemand in Hördistanz befindet, den sie nicht sehen können. Aber diese zufälligen Einsichten sind nicht der Grund, weshalb ich gerne auf dem Dach arbeite. Ich mag viel mehr gute Aussichten, liebe es, in der Dämmerung auf einem Dach über der Stadt zu stehen und mitzuerleben, wie das Leben erwacht.

Hin und wieder zurück
Schon mein Vater war Dachdecker. Er ist in den 1960er Jahren in die Schweiz eingewandert. Später kam er häufig mit dem Lieferwagen nach Hause. Auf der Brücke lag das ganze Dachdecker-Material. Ich kam also sehr früh damit in Berührung. Während meiner Schulzeit entschied die Familie, wieder nach Italien zu ziehen. Nach meinem Abschluss kamen wir wieder zurück in die Schweiz. Weil ich während unserer Italien-Zeit viel meiner Deutschkenntnisse verlor, und auch ein paar andere schulische Schwächen hatte, arbeitete ich ein Jahr lang als Hilfsarbeiter auf dem Bau, bevor ich die dreijährige Lehre als Dachdecker begann. Meine Eltern leben heute übrigens wieder in Italien. Weit weg von der Familie also, die ich selbst gründete. Meine Tochter ist sechsjährig, das Zwillingspärchen gerade jährig. Wenn Leute fragen, ob so ein Zwillingspaar nicht sehr stressig sei, witzle ich stets, ich ginge deshalb sehr früh zur Arbeit und käme erst sehr spät wieder nach Hause.

Vorarbeiter soll vor-arbeiten
Ich bin im Frühling zur Scherrer metec AG gekommen. Gesucht wurde im Internet jemand, der über die fachlichen Kenntnisse hinaus auch bereit war, koordinative Aufgaben zu übernehmen. Ich dachte mir, ich habe noch etwas Platz in meinem Kopf und bewarb mich. Bereits in meiner vorherigen Stelle hatte ich begonnen, mich in diese Richtung weiterzuentwickeln. Ich übernahm vermehrt Organisatorisches. Der Mix aus administrativen Tätigkeiten und nach wie vor der Präsenz auf den Baustellen sagte mir sehr zu. Zumal man meinen Knien und meinem Rücken wirklich gut anmerkt, dass ich schon lange in der Branche arbeite. Auf keinen Fall bin ich einer, der jetzt auf die Baustelle geht und wegen seiner neuen Aufgaben und Kompetenzen den «Obermotz » raushängt. Ich will in jeder Situation offen mit meinen Leuten sprechen. Ich lobe sie, wenn sie gut arbeiten. Und ich sage es ihnen ohne Umschweife, wenn mir etwas nicht passt. Schreien tue ich nie, davon bekomme ich Kopfschmerzen, vor allem jetzt im Herbst. Ich glaube, dass man einem Team keine Autorität vorspielen kann. Die Leute respektieren dich, wenn sie merken, was du auf dem Kasten hast. Ich habe überhaupt keine Mühe, sofort hinzuknien, wenn es notwendig ist, und Hand in Hand mit meinem Team einen Dachbau voranzutreiben. Ein Vorarbeiter soll schliesslich nicht vorplappern, sondern vor-arbeiten. Das ist meine Einstellung.

Beat Matter

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Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

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