In der Wirtschaftspresse wird die Sika AG für das sehr rasche und deshalb erfolgreiche Reagieren auf die Krise gelobt. Ein Gespräch mit dem Mann, der in dieser schwierigen Situation die Fäden in der Hand hielt: CEO Ernst Bärtschi. (die baustellen Nr. 06/2010)
«die baustellen»: Sika feiert das 100 Jahre-Jubiläum. Kurz davor sorgte die grösste Wirtschaftskrise der Geschichte für Ungemach. Wenn man sich allerdings die Zahlen und ihre Äusserungen ansieht, bekommt man fast den Eindruck, die Krise sei das beste Jubiläumsgeschenk gewesen.
Ernst Bärtschi: Nicht nur. Sicher konnten wir Veränderungen realisieren, die durch die Krise einfacher vonstatten gingen. Durch sie haben wir uns konsequent auf jene Bereiche fokussiert, in welchen wir erfolgreich sein wollen. Aber natürlich wäre es auch schön gewesen, das Wachstum und den «Zug» der Firma, die vor der Krise existierten, einfach weiter zu ziehen und auf die Restrukturierungs-Massnahmen zu verzichten.
Auf welche Massnahmen hätten Sie gerne verzichtet?
Wir mussten einige Stellen abbauen und Fabriken schliessen, was ohne die Krise in dieser Form nicht notwendig gewesen wäre.
Was ist unter der Fokussierung zu verstehen, die Sie angesprochen haben?
Wir haben «Must-Win» – Bereiche definiert. Bereiche, in denen wir unbedingt aktiv und erfolgreich sein wollen. Andere Bereiche reduzierten wir.
Hat man sich vor der Krise verzettelt?
Rückblickend kann man das behaupten. Es war eine Phase, in welcher wir nach Wachstumspotenzialen suchten. Wir haben die Geschäfte gefunden und mit deren Ausbau begonnen. Mittlerweile wissen wir, welche von ihnen gut laufen und welche weniger gut. Als Folge daraus refokussieren wir uns wieder. Das ist ein üblicher Vorgang, wie er in jedem Unternehmen stattfindet.
Wenn man die Berichte über das Verhalten von Sika in der Krise liest, fällt auf, dass hauptsächlich die schnelle Reaktionszeit gelobt wird. Wie war das, angesichts der Grösse des Unternehmens, überhaupt möglich?
Wenn der Hauptteil der Entscheidungskompetenzen für das operative Geschäft bei den einzelnen Gesellschaften liegt, kann in diesen Bereichen sehr schnell reagiert werden. Und wenn man nur die wenigen Bereiche, in welchen die Zentrale Leadership zeigen muss, in der Zentrale belässt, kann man auch dort sehr schnell Antworten bereitstellen. Bezüglich Kommunikation dieser Entscheidungen griffen wir zu einem Hilfsmittel, welches sich schon andernorts bewährt hat: Wir versandten wöchentliche Mitteilungen, den «Friday-Letter», an die Länderchefs und an alle, die ein Interesse an solchen Informationen hatten. Damit erzeugten wir eine «Unité de doctrine».
Welches waren die Bereiche, in denen die Zentrale Leadership zeigen musste?
Etwa bei der Einordnung des Krise. Wir haben diese von Anfang an nicht als kurzzeitiges Ereignis deklariert, sondern sind stets von einer fünf Jahre oder länger andauernden Krise ausgegangen. Wenn man das einmal festgelegt hat – und diese Prognose vom Verwaltungsrat bestätigt wurde – muss man den Gesellschaften mitteilen, dass sie die Kosten inklusive Personalkosten herunter zu fahren haben, sobald sie einen Einbruch erfahren. In diesem Zusammenhang hat die Zentrale auch die Leadership bezüglich der Behandlung der zu Entlassenen wahrzunehmen, d.h. die konkrete Interpretation der Menschenwürde und der Sorgfaltspflicht festzulegen.
Die eigentliche Durchführung der Massnahmen ihm Rahmen der vorgegebenen Sorgfaltspflicht findet dann in der Gesellschaft statt. Die Gesellschaft entscheidet, ob der Lohn reduziert wird oder ob Stellen abgebaut werden oder ob eine andere Massnahme sinnvoll ist. Viele unserer Gesellschaften reduzierten bei den übrigen Kosten massiv stärker, als bei den Personalkosten – und erreichten damit die gewünschten Ergebnisziele ohne die Zukunft zu verbauen.
Das heisst, Sie kommunizieren primär die Ergebnisziele?
Ja, in einer gewissen, gröberen Bandbreite konnten die Gesellschaften völlig selbständig entscheiden – aber unsinnige Verhaltensweisen werden durch die Matrixstruktur eskaliert und korrigiert.
Wie muss man sich die Gefühlswelt eines CEOs in einer solchen Krise vorstellen?
Es bleibt keine Zeit mehr, um sich zu fragen, ob man die Krise und deren Auswirkungen nun persönlich gut oder weniger gut finde. Man muss sich überlegen, was langfristig zur Verantwortung einer solchen Position gehört. Und diese Verantwortung besteht darin, dass man Ziele ohne allzu grosse Nebenwirkungen erreicht.
Kämpft man auch mit Selbstzweifel?
Man muss sich selbst immer wieder hinterfragen – nicht nur in der Krise. Selbstzweifel kann zaudern bedeuten und ist schlecht, Selbstkritik hingegen ist notwendig. Ich glaube auch, dass der Selbstbetrug die grösste Gefahr für einen Manager darstellt.
Inwiefern?
Dass er Dinge nicht sieht und nicht wahrhaben will, die sich in der Realität abspielen. Es gilt tatsächlich, sich selbst täglich auf die Schliche zu kommen.
Ist es im Zuge derartiger wirtschaftlicher Verwerfungen von Vorteil, ein Unternehmen zu sein, das weltweit in den unterschiedlichsten Märkten tätig ist?
Es ist mit Sicherheit ein Vorteil, wenn ein Unternehmen über verschiedene Standbeine verfügt. Bei uns verzeichneten im vergangenen Jahr beispielsweise noch immer mehr als 20 Ländergesellschaften ein Wachstum von zum Teil fast 50 Prozent. Als Gesamtkonzern sieht man damit natürlich besser aus. Für die Einzelgesellschaften spielt es allerdings keine Rolle: da gilt nur die konkrete Situation.
Entstehen auch Schwierigkeiten, wenn man in ein und demselben Konzern in einer Gesellschaft 20 Prozent des Personals entlassen muss und in einer anderen 20 Prozent Personal dazu gewinnen sollte?
Natürlich. In der Kommunikation muss man sehr viel differenzierter vorgehen. Man muss stets versuchen, bereits im ersten Satz jene anzusprechen, welche von der angesprochenen Situation betroffen sind.
Welchen Stellenwert hat die Kommunikation insgesamt in einer solchen Krise?
Der Stellenwert ist fast nicht zu überbieten.
Gemäss ihrer Prognose ist China der schwergewichtige Markt der künftigen Jahre. Wie wollen Sie am Wachstum des Landes teilhaben?
China ist ein Thema für sich. Es ist derzeit die grösste Herausforderung für den ganzen Rest der Welt. Die Entwicklung und das Wachstum, die in China vollzogen werden, werden zwar kaum die nächsten 20 Jahre anhalten – wohl aber fünf bis zehn Jahre. In dieser Phase wird China eine wirtschaftliche Basis aufbauen, die es dem Land erlaubt wird, in sehr vielen verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen ihre Produkte sehr günstig herzustellen und in den Rest der Welt exportieren zu können.
Um dieser Entwicklung etwas entgegen halten zu können, wird der Westen Prinzipien aufgeben müssen, die er bislang selbst gepredigt hat. Ob ihm das gelingen wird oder nicht, sei derzeit dahin gestellt. So oder so wird sich der Weltmarkt völlig neu präsentieren. China ist bereits heute die grösste Exportnation und Weltmarktführer in diversen Bereichen – auch z.B. im Automobilbau oder im Bau von Containern. Die Ankündigung der angestrebten globalen Führung in den Green Technologies ist realistisch. Ich bin überzeugt, dass der Umweltschutz künftig nicht mehr Thema der G20 oder der G8 sein wird, sondern von G1, nämlich von China allein.
Wenn man solche Entwicklungen einmal verdaut hat, realisiert man, dass man sich im Westen wird warm anziehen müssen. Vor zwei Wochen hat Sika in China eine Fabrik eröffnet. Sie wurde für dreieinhalb Millionen Franken und in fünf Monaten gebaut. In Europa wäre sie dreimal so teuer gewesen und die Bauzeit hätte dreimal so lange gedauert. Da merkt man, in welch anderen Dimensionen in China operiert wird. Es sind unglaubliche Verhältnisse, die wir in diesem Ausmass noch nie in einem anderen Markt angetroffen haben.
Ist China Chefsache?
Absolut.
In einem Interview sagten Sie auf die Frage, wie Sie mit dem Risiko umgehen, dass die Chinesen die Sika-Technologie kopieren und damit den Konzern konkurrenzieren: «Wir werden kopiert, das ist klar.» Muss man das als führendes Technologie-Unternehmen einfach in Kauf nehmen?
Wenn wir nicht kopiert werden, dann sind nicht wir die Besten. Ein Produkt, so gut und so geschützt es auch ist, läuft irgendwann aus. Und wenn Sie nicht zu den Besten gehören und sich nicht dauernd steigern können, dann sollten sie aufhören. Fairerweise muss ich aber sagen: Wir orientieren uns auch nach allen Seiten und sehen, was im Markt funktioniert und was nicht. Es geht immer darum, Lösungen zu finden, die dem Marktbedürfnis entsprechen – nicht alle Ideen müssen von ihnen selbst sein!
In China, wie auch weltweit, will Sika durch organisches Wachstum, aber auch durch Akquisitionen wachsen. Welches sind die Kriterien, damit Sika ein Unternehmen kauft?
Ein Unternehmen muss in den Bereich passen, welchen wir als «focus area» bezeichnet haben. Es muss sich mit Technologien befassen, die sich gut mit unseren ergänzen. Bisweilen kann es sich bei Akquisitionen aber auch um reine Marktanteilskäufe handeln, um die kritische Masse rascher zu erreichen.
Definiertes Ziel ist es, 20 Prozent Anteil am Weltmarkt zu erreichen.
Ja, das ist eine unserer Zielsetzungen. Ich würde sagen, in den nächsten fünf bis zehn Jahren sollte das zu machen sein.
Und im Zuge dessen könnte der Umsatz auf über 8 Milliarden Franken ansteigen, wie sie an der diesjährigen Generalversammlung in Aussicht stellten. Schier unvorstellbar, wenn man bedenkt, dass Sika im 2009 einen Umsatz von gut 4 Milliarden Franken machte.
Ja. Stellen Sie sich vor, die Krise wäre nicht ausgebrochen, wir hätten dieses Jahr wohl die 6 Milliarden überschritten und damit in 6 Jahren den Umsatz 2.5-fach gesteigert.
Wenn man weiss, was man erreichen kann – und wenn man dazu noch weiss, wie man es erreichen kann, dann lassen sich ambitionierte Ziele einfacher kommunizieren. Mit einer offengelegten, verständlichen Strategie lassen sich fast alle Mitarbeitenden motivieren.
An solchen Mitarbeitern mangelt es aber offenbar.
Ja. Vor allem in unseren Wachstumsmärkten müssen wir den Bestand natürlich enorm ausbauen.
Suchen Sie Fachleute, die von hier aus in diese Länder gehen oder suchen Sie vielmehr qualifiziertes Personal vor Ort?
Wir suchen Leute, die unser Know how in diese Märkte bringen, aber das Gros der zusätzlichen Mitarbeiter werden lokal ansässige Leute sein, welche mit den Anwendern unserer Produkte vor Ort zusammenarbeiten können.
Zu Beginn des Gesprächs diskutierten wir die Situation während und vor der Krise und sie räumten ein, dass sich das Unternehmen möglicherweise ein wenig verzettelt hatte. Jetzt aber treten Sie das Gaspedal wieder voll durch…
… das sind keine Widersprüche: Wir beschleunigen in einer reduzierten Anzahl von Fokusmärkten um die beschränkten Ressourcen wirksamer einzusetzen.
Sie marschieren also konsequent vorwärts, folgen hoch angesetzten Umsatz- und Wachstumszielen. Widersprechen Sie bitte, wenn Sie nicht einverstanden sind, aber die nächste Krise kommt mit Sicherheit. Wie sorgen Sie in der Wachstumsphase dafür, dass in der nächsten Krise nicht wieder dieselben Probleme auftreten?
Eine gute Frage. Grundsätzlich wäre es aber völlig falsch, aus Angst vor der nächsten Krise Marktpotenzial nicht zu nutzen. Natürlich muss mit flexiblen Lösungen berücksichtigt werden, dass eine nächste Krise gemeistert werden kann.
Nochmals zu Europa: Im Moment hat man den Eindruck, ein Kartenhaus falle zusammen. Länder machen Pleite.
Ich finde, das Griechenland-Problem wird übertrieben. In Amerika gibt es 21 Staaten, die ebenfalls nahezu im Konkurs sind. Aber davon spricht niemand. In New York wurden 100 Schulen geschlossen und 4000 Polizisten entlassen. Das empört niemanden. Aber mit dem Finger auf Griechenland zu zeigen, ist derzeit einfach «en vogue».
Natürlich werden die europäischen Länder ihre Hausaufgaben machen müssen. Aber das hat nicht zwangsläufig etwas mit der Krise zu tun, sondern vielmehr mit bisheriger Disziplinlosigkeit und dem Selbstbetrug der politischen Elite.
Innerhalb Europas bezeichnen Sie die Schweiz als «positive Ausnahme». Was macht sie zu einer solchen?
Obwohl mittlerweile auch in der Schweiz vor einer möglichen Blase gewarnt wird, stelle ich fest, dass noch eine rege Bautätigkeit herrscht. Ich stelle auch fest, dass es beim Verkehr nach wie vor signifikante Engpässe gibt. Das allgemeine Mobilitätsbedürfnis ist derzeit durch Kapazitätsengpässe behindert, im Strassenverkehr, wie auch im öffentlichen Verkehr. Also wird es in den kommenden zehn, zwanzig Jahren notwendig sein, grössere Projekte zu realisieren. Ein Beispiel: Die Autobahn zwischen Winterthur und Bern muss mit Sicherheit sechs, wenn nicht sogar teilweise achtspurig ausgebaut werden. Leider müssen wir immer zuerst 10 Jahre Stau haben, bis ein Projekt mehrheitsfähig wird.
Kann man dem entnehmen, dass Sie als Wirtschaftsmann die Staatsform der direkten Demokratie nicht als höchste der Gefühle betrachten?
Es gibt sicherlich Situationen, in denen man schneller zu Entscheidungen gelangen sollte, als es in der Schweiz derzeit möglich ist.
Sagen Sie: Hat man als Kopf eines weltweit tätigen Unternehmens überhaupt je den Kopf frei für anderes?
Dazu muss man sich zwingen. Wenn man sich die Freizeit nicht organisiert, kommt sie nicht von alleine. Ich habe das Unangenehme des Reisens, das ewige Warten auf den Flughäfen, mit dem Lesen von Büchern verbunden. Und in der Schweiz gehe ich viel in die Berge.
Der Raum für Freizeit existiert also.
Ja, wenn man bereits Anfang Jahr genau definiert, in welchen Wochen oder an welchen Wochenenden man nicht arbeitet. Ansonsten wird man letztlich das ganze Jahr durchgearbeitet haben.
Sind Sie dann auch wirklich so diszipliniert und machen Ferien, wenn eine als solche definierte Woche anbricht?
In der Regel ja. Ich verabrede mich für diese Zeit häufig mit der Familie und mit Freunden. Und wenn ich nicht käme, würden sie mir die Leviten lesen.