Alexandra Eyer ist der Roger Federer der Sportkletterer. Nun tritt die Unschlagbare an der Weltmeisterschaft in China an. Nach ihrer Verletzungspause will die 28-jährige Zürcherin eine Medaille gewinnen. Doch darüber würde sie am liebsten gar nicht sprechen. (Migros-Magazin, 22.06.2009, Nr.26/2009)
Ganz oben hängt ein filigranes Geschöpf an der Wand. Es «tanzt» von Klettergriff zu Klettergriff. Im Zentrum der Kletterhalle im Milandia Greifensee steht ein Mann mittleren Alters. Graue Haare, Brille, Klettergurt um die Hüften, nicht viel Bauch, aber ein wenig. Eine Schulklasse hat ihre Kraxelversuche unterbrochen, sitzt nun auf der Tribüne und bewundert ihn. Oder doch eher das feine Wesen weiter oben?
Der Mann am Boden ist Leo Condrau, im Zentralvorstand des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) für das Ressort Leistungssport zu-ständig. Er sichert die bewegungsaktive Frau, obwohl jeder schnell zur Überzeugung gelangt, dass dies nicht nötig wäre. Es ist die 28-jährige Zürcherin Alexandra Eyer – keine 50 Kilogramm schwer, burschikose Züge.
Seit 2002 wurde sie nur einmal nicht Schweizer Meisterin im Lead, der Königsdisziplin des wettkampfmässigen Sportkletterns – da war sie gerade verletzt. Ein Weltcupsieg geht auf ihr Konto. An der WM 2003 wurde sie Fünfte, 2005 Elfte, 2007 Zwölfte. Jetzt steht die WM im chine-sischen Quinghai auf dem Programm. Eine neue Gelegenheit also für die kleine Sportlerin, über sich hinauszuwachsen.
Ein Hin und Her zwischen null Chance und Medaille
Condrau ist kein Mann der grossen Töne. Es gebe in dieser Saison keinen Lead-Weltcup vor der WM. Für eine konkrete Prognose fehle also der internationale Vergleich, sagt er vorweg. «Hoffnung auf einen Podestplatz von Alexandra ist aber da», flüstert er schliesslich beinahe. Der Sinn eines Spiels sei es zu gewinnen, meint Alexandra Eyer dazu. Es ist Ausweichmanöver und gleichsam Antwort auf die Frage nach ihrem WM-Ziel. Noch vor einigen Wochen musste Eyer wegen einer Schulterverletzung pausieren. Sie hat einen Trainingsrückstand. Auch das betont die von der Genossenschaft Migros Zürich unterstützte Sportlerin mehrfach.
Als Kind war Eyer, was Condrau noch heute von ihr sagt: «Ein Bewegungstalent mit viel Körpergefühl». Mit neun Jahren liess ein Onkel sie während der Ferien im Wallis erstmals an Felsen herumturnen. Zwei Jahre später nahm sie mit der Mädchenriege an einem Plauschklettern teil, das von der Jugendorganisation einer SAC-Sektion organisiert wurde.
Locker sei sie die Wand hochgeklettert, habe aber kurz vor dem Top gemeint, man könne sie nun wieder runterlassen, schildert Eyer. «Das vorzeitige Aufgeben war Selbstschutz. Dinge, die mit Gleichgewicht und Körpergefühl zu tun hatten, gelangen mir meist auf Anhieb, was andere Kinder teilweise grausam neidisch machte. Also habe ich mich absichtlich schlechter gestellt», erklärt sie.
Dennoch erkannte ein Verantwortlicher des Anlasses ihr Talent. Er lud Eyer zum Klettertraining ein, förderte sie schliesslich intensiv, «schleppte mich überallhin mit», wie sie sagt. Schliesslich baute er um sie herum ein Regionalkader auf. «Vor allem aber liess er mich klettern. Immerzu. Häufig mit einem spielerischen Ansatz, nicht immer am Limit.» Die flüssige, tänzerische Art, mit der sie heute klettere, verdanke sie diesem Umstand, analysiert sie.
1996 kam Alexandra Eyer als 15-Jährige ins Junioren-Nationalteam und sammelte erste Erfahrungen an internationalen Wettkämpfen. Drei Jahre später gewann sie an Juniorenweltmeisterschaften die Bronzemedaille. Noch während ihrer Lehre als Bandagistin, der Anfertigung von medizinisch-technischen Hilfsmitteln für körperlich behinderte Menschen, ein Beruf, den sie noch heute teilzeitlich ausübt, stiess Eyer ins Elite-Nationalteam vor.
Mit der kaputten Schulter kamen die ersten Zweifel
Sie mischte an der Weltspitze mit und sammelte nationale Meistertitel – bis 2006 die Schulter nicht mehr mitmachte. «Nach der Operation begann dann mein Fight mit dem Kopf», sagt sie. Sofort wollte sie nach der Gesundung wieder an die früheren Leistungen anknüpfen. Irgendwann musste sie auf die Bremse stehen, damit aufhören, sich selbst einzig über Wettkämpfe und Resultate zu definieren. «Ich begann zu realisieren, dass ich als Mensch mehr bin als das.»
Ihr Rezept war es nicht, sich von ihrer Kletterleidenschaft zu lösen, sondern diese vermehrt ohne Wettkampfdruck zu betreiben. «Plötzlich gab es nichts Schöneres, als mit meiner Partnerin in der Natur an Felsen zu klettern», erzählt Eyer. Der stressfreie Ausgleich färbte auf ihre Resultate ab. Sie kletterte zurück unter die besten zehn der Welt und holte sich den «verpassten» Schweizer-Meister-Titel im Folgejahr zurück.
Mit der eigenen Methode gegen den Erwartungsdruck
Heute sei es ihre grosse mentale Herausforderung, an Wettkämpfen eine Stimmung aufzubauen, als wäre sie gar nicht an einem Wettkampf. Es sei nicht einfach, wenn bereits während der Anreise mit dem Nationalteam Spannung in der Luft liege. Sie besteht deshalb auf einem Einzelzimmer. Im gedrängten Isolationsraum unmittelbar vor dem Wettkampf platziert sie eine Sitzmatte, «meine Insel, mein eigener Rückzugsort».
So wird es auch an der Weltmeisterschaft in China vom 30. Juni bis 5. Juli geschehen. Eyer wird versuchen, sich von Trubel und Erwartungen abzuschotten. Sie will nicht daran denken, dass sie vor wenigen Wochen noch wegen erneuter Schulterprobleme pausieren musste und einen Trainingsrückstand hat. Sie wird so tun, als sei es kein Thema. Doch: «Das Ziel ist eine Medaille.» Und dann wird sie «tanzen».