Der engagierte Jurist

Als Richter am Bundesverwaltungsgericht urteilt Marc Steiner in Prozessen zum öffentlichen Beschaffungswesen. Als Fachexperte mit viel Feuer und Humor hat er Politik, Behörden und Wirtschaftsverbände bei der Revision des Vergaberechts unterstützt und denkt jetzt über die Umsetzung des neuen Rechts nach. Ein Gespräch über den Paradigmenwechsel – und den persönlichen Seiltanz. (Text und Fotos: Beat Matter für „die baustellen“ Nr.04/2024)

Das revidierte öffentliche Beschaffungsrecht (BöB) ist vor gut drei Jahren in Kraft getreten. Wo steht die Umsetzung heute?

Marc Steiner: Mit dem revidierten Beschaffungsgesetz und der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) sind die rechtlichen Grundlagen vorhanden. Diese Grundlagen zwingen aber nur teilweise zum neuen Vergabeverhalten, das mit der Revision angestrebt wird. BöB und IVöB geben also keine abschliessende Handlungsanleitung, sondern öffnen Spielräume. Die entscheidende Frage, mit der wir uns gegenwärtig beschäftigen, ist: Was ist zu tun, damit diese Spielräume wirklich ausgeschöpft werden?

Das alte Vergabegesetz war mit seiner starken Preisgewichtung und einem engeren Qualitätsverständnis einfacher und klarer. Demgegenüber wirft das neue BöB komplexe Umsetzungsfragen auf.

Das ist unvermeidbar. Verfolgt man die Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre, zeigt sich klar: unterkomplexe Regulierungen führen zu Kollateralschäden. Regulierungen, die der Komplexität der Materie nicht gerecht werden, sind nicht bloss unzureichend, sondern schädlich. Dieses Bewusstsein ist in den vergangenen Jahren glücklicherweise gewachsen. Soll nun aus diesem Bewusstsein heraus eine Regulierung die reale Komplexität des betreffenden Lebensbereichs abbilden, kann das nicht einfach sein. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Wir müssen eine neue Art der Einfachheit entwickeln.

Eine neue Art der Einfachheit?

Wir müssen uns von einem alten «Einfach» auf Niveau A auf ein neues «Einfach» auf Niveau B bewegen. Damit das gelingt, müssen wir auf einer übergeordneten Ebene nach Methoden suchen, um unser Vorgehen auf einer neuen Ebene wieder möglichst einfach zu gestalten. Diese Denkarbeit ist aufwendig, aber gut investiert und unheimlich lustvoll. Denn wir spüren der Frage nach, wie wir künftig leben und wirtschaften wollen.

Hat die Umsetzung des BöB seit Inkrafttreten den Verlauf genommen, den Sie erwartet haben?

Man muss fair sein und kann nicht das Unmögliche erwarten. Der Kanton Zürich beispielsweise ist der IVöB erst im Herbst 2023 beigetreten. Andere Kantone arbeiten noch daran. Man kann bei Inkrafttreten eines revidierten Gesetzes nicht einen Schalter umlegen und dann ist alles besser. Gesetzesrevisionen und Praxisänderungen brauchen Zeit. Dennoch: Cristina Schaffner, Direktorin von bauenschweiz, sagte dieses Jahr an der Swissbau, in der Umsetzung sei man mit angezogener Handbremse unterwegs. Ich teile diese Einschätzung.

Wer oder was bremst?

Die allgemeine Risikoaversion. Auf vielen Vergabestellen warten Menschen und vor allem die Führungskräfte darauf, dass Best-Practice-Beispiele vom Himmel fallen. Sie warten darauf, dass jemand Neues wagt und Risiken eingeht. Erst wenn es gelingt, folgen weitere dem Beispiel. Man kann das nachvollziehen, aber so geht es halt nicht vorwärts. Es braucht jetzt Leute, die aktiv dafür sorgen, dass neue Ansätze ausprobiert und Erkenntnisse daraus verbreitet werden.

In einem Statement sagten Sie jüngst: «Für die Durchsetzung des Vergabekulturwandels auf allen Ebenen braucht es noch einmal so viel Energie wie für die neuen Gesetzesbestimmungen». Was braucht es, damit diese Energie noch einmal freigesetzt werden kann?

Für die Bauindustrie war die Vergaberechtsreform eine sensationelle Erfahrung. Sie merkte, dass sie wirklich «Punch» hat, wenn sie geschlossen auftritt. Dass die Euphorie wieder nachliess, hat mich nicht überrascht. Es gibt in praktisch allen Themenbereichen Interessenvertreter, die überzeugt davon sind, dass Gesetzesrevisionen mit der Schlussabstimmung im Parlament abgeschlossen sind. Doch das Gegenteil ist wahr. Dann fängt das Spiel erst richtig an! Und es ist nochmals erheblicher Aufwand nötig, um die Ziele wirklich zu erreichen. Um die Kraft dafür zu mobilisieren, braucht es positive Emotionen. «Wir haben mit der Revision des Beschaffungsrechts ein unglaubliches Erfolgserlebnis kreiert. Mit der zielführenden Umsetzung können wir dieses gute Gefühl nochmals haben» – das wäre für mich die passende Botschaft.

An der Swissbau diesen Januar stellten Sie in einer Keynote die Leitfrage: «Was braucht es für eine echte Transformation im Beschaffungswesen?» Als Antwort nannten Sie die drei Eckpfeiler Beschaffungsstrategien, Branchendialog sowie Controlling/Monitoring. Ich möchte mit Ihnen diese Aspekte kurz anschauen: Warum sind neue Beschaffungsstrategien von Vergabestellen entscheidend?

Die ETH Zürich lieferte dafür kurz vor Inkrafttreten des neuen Beschaffungsrechts ein schönes Beispiel. Die Hochschule kontaktierte mich und bat mich darum, den Paradigmenwechsel im Rahmen einer Einkäuferschulung zu beleuchten. Die Anfrage liess mich ratlos zurück, entsprang sie doch eindeutig der Denkhaltung des alten Beschaffungsrechts. Im revidierten Beschaffungsrecht sind es nämlich nicht die Einkäufer, die vorangehen sollen, sondern es ist das Führungspersonal, das Verantwortung und Risiken übernimmt, indem es Leitplanken für die Beschaffung setzt.

Die Erarbeitung von neuen Beschaffungsstrategien soll also nicht nur Klarheit über das neue Vorgehen schaffen, sondern auch die Verantwortlichkeiten neu klären?

Absolut! Von den Chefs erarbeitete und verantwortete Beschaffungsstrategien sollen den Ausführenden den nötigen Rückenwind für die Umsetzung geben. Um auf die ETH zurückzukommen: Ich habe dem Rechtsdienst gesagt: Einkäuferschulung gibt es mit mir nur, wenn wir vorher ein Podium mit Schulleitungsmitgliedern machen und dort das Commitment abholen. Auf nationaler Ebene hat die neue Beschaffungsstrategie der Bundesverwaltung gezeigt, zu welcher positiven Dynamik das führen kann. Die Umsetzungsempfehlungen dazu sagen, dass sowohl BBL, armasuisse als auch ASTRA eine Beschaffungsstrategie haben müssen. Das gibt einen sehr willkommenen Benchmarkeffekt. Dadurch werden die unterschiedlichen Ambitionen, Vorstellungen und Vorgehensweisen sichtbar – und können analysiert und offen diskutiert werden. Also kein gottgewolltes administratives Gewurstel mehr, über das niemand spricht. Und es gibt keinen Grund, weshalb dieses Kunststück nicht auch in Kantonen, Gemeinden und weiteren Organisationen gelingen soll, die dem öffentlichen Beschaffungsrecht unterstehen.

Beim Bund, den Kantonen sowie auch den grösseren Städten dürfte das strukturelle Bewusstsein für solchen Handlungsbedarf vorhanden sein. Wie aber sieht es auf breiter Fläche aus?

Um sich mit dieser Frage zu beschäftigen, muss man sich zunächst einmal vor Augen führen, wie die Gewichte im öffentlichen Beschaffungswesen der Schweiz verteilt sind: Rund die Hälfte der über 40 Milliarden Franken, die jährlich durch das öffentliche Beschaffungswesen verteilt werden, fliesst in den Bau- und Immobilienbereich. In diesem Themenbereich liegt also ein gewaltiger Hebel. Rund 80 Prozent dieser 40 Milliarden Franken werden auf Stufe der Kantone und Gemeinden vergeben. Bei den grossen Brocken der öffentlichen Beschaffung denkt man an Kampfflugzeuge oder die NEAT, weil Bundesvergaben medial präsenter sind. Das richtig grosse Vergabevolumen aber liegt bei Kantonen und Gemeinden. Dort muss Veränderung stattfinden, wenn der erhoffte Kulturwandel gelingen soll. Aber dafür fehlt in der Schweiz teils die politische Fantasie.

Was könnte helfen?

Der Blick über die Landesgrenzen! In Österreich liegt beispielsweise ein Aktionsplan für nachhaltige Beschaffung vor. Per Ministerbeschluss wurden darin auf Bundesebene viele produktspezifische Weisungen erlassen, die praktisch keinen Raum mehr lassen für Freiwilligkeiten und individuelle Abwägungen von Vergabestellen. In Vorarlberg wiederum haben Kommunen eine gemeinsame Beschaffungsorganisation gegründet. Über sie wird gemeinsam beschafft, die resultierenden Skalierungsgewinne werden für ökologischen Mehrwert der Produkte eingesetzt. Das ist doch inspirierend!

Der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) fordert eine Professionalisierung der Vergabestellen, um den Anforderungen des neuen Vergaberechts gerecht zu werden. Auf den Ebenen Bund und Kantone dürfte das gewährleistet sein. Aber ist es auf Stufe Gemeinden machbar?

In dieser Forderung gehe ich völlig einig mit dem SBV. Ich bezweifle jedoch, dass in allen Kantonen per se die nötigen Strukturen für diesen Paradigmenwechsel vorhanden sind. So dürfte es beispielsweise grosse Unterschiede geben in den Ressourcen, welche die Kantone für die Beratung ihrer Gemeinden zur Verfügung stellen. Solche Faktoren müssen sichtbar und damit vergleichbar gemacht werden. Nur so kommt Dynamik in die Entwicklung.

Aber nochmals: Sind kleine Gemeinden, die eine Handvoll Ausschreibungen pro Jahr abwickeln, in der Lage, den geforderten Professionalisierungsgrad zu erreichen?

Es führt kein Weg daran vorbei: Mit dem revidierten Beschaffungsrecht werden Vergaben anspruchsvoller. Um damit umzugehen, werden viele Gemeinden Unterstützung brauchen. Dafür gibt es verschiedene denkbare Möglichkeiten. 1. Kantone können und müssen ihre Gemeinden besser beraten. Die Kommunen müssen spüren, dass es beim Kanton niederschwellige Unterstützungsangebote gibt, die sie vorwärtsbringen. 2. Die Kantone können Rahmenverträge zur Verfügung stellen, die für mehr oder weniger standardisierte Beschaffungen genutzt werden können. Beispiele dafür sehen wir in Deutschland, vor allem aber in Österreich und Finnland, wo sogar auf Bundesebene für alle Kommunen Rahmenverträge angeboten werden, sodass sich diese wie in einem Supermarkt bedienen können. 3. Gemeinden sind heute schon vielfach verbandelt, um wichtige Services sicherzustellen: Schulwesen, Kläranlagen, Forstwirtschaft oder Abfallentsorgung sind Beispiele dafür. Nach diesem Muster könnten Gemeinden auch professionell aufgestellte Zweckverbände für öffentliche Beschaffungen bilden und eine gemeinsame Beschaffungsorganisation aufbauen.

Als zweiten Eckpfeiler für die erfolgreiche Transformation nannten Sie den Branchendialog. Geeint auftretende Branchenorganisationen also, die auf Augenhöhe mit den Vergabestellen über die Zukunft reden wollen. Welches Potenzial steckt darin?

Branchendialog und -kooperation sind Wunderwaffen! Der Revisionsprozess im Beschaffungsrecht hat das deutlich gezeigt. Mit vereinten Kräften hat man gegen beträchtlichen Widerstand erreicht, dass im neuen Gesetz der Ausdruck vom vorteilhaftesten Angebot, von Qualität und Nachhaltigkeit die Rede ist. Und mehr noch: In der neuen Beschaffungsstrategie der Bundesverwaltung kommt zum Ausdruck, dass der Dialog auf Augenhöhe mit den Wirtschaftsverbänden das Mittel sein soll, um die Reform umzusetzen und das Beschaffungswesen weiterzuentwickeln. Das ist nur erreichbar, wenn Branchen kooperieren.

Die Verbände der Baubranche waren im Revisionsprozess sehr kompakt. Sind sie es auch jetzt in der Umsetzung noch?

Ich meine ja. Gleichzeitig ist klar, dass in der Umsetzung andere Anforderungen im Raum stehen als während des Revisionsprozesses. In der Umsetzung reicht es nicht mehr, Tatsachen zu kritisieren und Veränderungen zu fordern, sondern es braucht auch in den eigenen Reihen die Bereitschaft, innerhalb der neuen Rahmenbedingungen das Verhalten anzupassen – konkret etwa das Offertverhalten. Es ist nicht einfach, plötzlich Offerten zu stellen, die sich von der bisherigen Preisorientierung wegbewegen und Qualitäts- und Nachhaltigkeitsaspekte überzeugend integrieren. Die Professionalisierung, die der SBV für die Vergabestellen fordert, braucht es auch auf der Anbieterseite.

Als dritter Eckpfeiler der Transformation betonen Sie Controlling und Monitoring. Worin liegt deren Kraft?

Basis jeglicher Controlling- und Monitoringmassnahmen sind Daten, die man zusammentragen und auswerten kann. Solche Daten schafft man erstens mit Plattformen wie simap.ch, über die öffentliche Ausschreibungen abgewickelt werden. Zweitens schafft man sie organisationsintern, indem man Führungsdaten erhebt, aufgrund derer man Vorgesetzten und politische Verantwortlichen Auskunft über Vergabeprozesse geben kann. Beide Aspekte zusammen haben eine sehr grosse Hebelwirkung.

Wie wird ein solcher Hebel nutzbar?

Sammelt man Ausschreibungen und Ausschreibungsunterlagen von simap.ch und wertet diese aus – wie das der grandiose «Vergabemonitor» von bauenschweiz tut – dann lassen sich Aussagen zum Ambitionslevel jeder Ausschreibung machen und die Entwicklung dieser Ambitionen im Verlaufe der Zeit vergleichen. Sortiert nach Auftraggebern kommt erst richtig Musik ins Spiel: Denn so tritt beispielsweise zutage, dass Basel-Stadt jener Kanton ist, der bei öffentlichen Ausschreibungen am wenigsten auf Qualität achtet und die höchste Preisgewichtung vornimmt. Solche Tatsachen werden – wenn das Vergabemonitoring noch mehr Beachtung findet – in den politischen Diskurs und schliesslich ins organisationsinterne Controlling einfliessen. Denn was gemessen und öffentlichkeitswirksam verglichen werden kann, kann man vergabeseitig nicht mehr unbeachtet lassen.

Sie sprechen den «Vergabemonitor» an, der im Schweizer Bauwesen entstanden ist. Sie rechnen ihm eine zentrale Funktion in dieser Transformation zu?

Zweifellos! Die erste und wichtigste Funktion des Vergabemonitors für die Bauwirtschaft liegt im Bewusstsein: Wir müssen nicht abwarten, bis irgendjemand irgendetwas tut. Sondern wir können selbst aktiv werden, Dinge ausprobieren und so unsere Zukunft gestalten. Der Vergabemonitor, den Laurens Abu-Talib mit seiner Firma politaris entwickelt hat und nun Ausgabe für Ausgabe weiterentwickelt, ist ein begeisterndes Beispiel dafür. Das ist eine Initiative, die jede Unterstützung verdient, welche die Branche aufbringen kann. 

Aber zeigt das Vergabemonitoring nicht auch, dass die föderalen Unterschiede in der Umsetzung gross sind und wohl auch bleiben werden?

Das mag auf Detailebene so sein. Aber die Gesamtentwicklung steht für mich im Vordergrund. Das Grossartige an dieser Vergaberechtsrevision ist doch, dass wir nicht mehr 26 kantonale Vergabegesetze haben. Stattdessen ist sind das das Bundesgesetz und die interkantonale Vereinbarung so designt, dass sie praktisch textgleich sind. Die Ausgangslage ist so, dass die einzelnen Kantone nichts anderes machen müssen, als der Vereinbarung beizutreten. Wenn ich meinem Sohn erzähle, dass ich in einem Land aufgewachsen bin, in dem jeder Kanton eine eigene Zivilprozessordnung, eine eigene Strafprozessordnung oder eben ein eigenes Beschaffungsrecht hatte – dann wird mir bewusst, wie genial diese Entwicklung doch ist.

Sie sagen, es braucht, Mut, Fantasie und Begeisterung, um die Transformation gut zu gestalten. Wie viel Druck braucht es?

Es braucht genug Sog durch Inspiration und zugleich politischen Druck, um Bewegung zu erzeugen. Die besprochenen drei Eckpfeiler der Transformation – Vergabestrategien, Branchendialog sowie Controlling/Monitoring – tragen allesamt dazu bei, diesen Druck zu erzeugen. Hilfreich wäre es darüber hinaus, wenn nicht nur Vergabeskandale mediale Aufmerksamkeit erhaschten, sondern das Beschaffungswesen in seinem Transformationsprozess gesamthaft mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhielte. Das ist kein Thema für Technokratinnen und Technokraten. Kreislaufwirtschaft gibt es nicht ohne Transformation des öffentlichen Einkaufs.

Am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, wo Sie als Richter tätig sind, wurden seit Inkrafttreten des neuen Beschaffungsgesetzes bereits mehrere Urteile zum Thema gefällt. Welche Wirkung haben diese?

Die bisherigen Prozesse und Urteile werden bisher leider erst von Fachkreisen beachtet. In der breiten Wirtschaft erzeugen sie noch zu wenig Wirkung. Dabei sind die Urteile grossmehrheitlich ermutigend. Umso wichtiger ist es, dass wir öffentlich über sie reden, daraus Lehren ziehen und sie so zu dem machen, was sie effektiv sind: Grundlagen, um das neue Vergabesystem zu etablieren und praxistauglich zu machen.

Wie gehen Sie mit Ihrer Rolle im Spannungsfeld zwischen neutral urteilendem Richter und Wanderprediger für ein nachhaltiges Beschaffungssystem um?

Das ist ein schwieriger Punkt, mit dem ich mich seit Jahren immer wieder intensiv und kritisch auseinandersetze. Als Richter erwartet man von mir zu Recht ein Verhalten, das nicht als politikgestaltend wahrgenommen wird. Mitte des 18. Jahrhunderts lehrte uns Montesquieu die Gewaltentrennung von Exekutive, Legislative und Judikative. Sie ist unbestritten wichtig und richtig.

Aber?

In der Schweiz gibt es – etwa im Unterschied zum geistigen Eigentum oder zum Kartellrecht – nur eine kleine Zahl von juristischen Expertinnen und Experten, die über rechtsvergleichende Kompetenzen im Beschaffungsrecht verfügen und das notwendige Kontextwissen haben. Und davon haben sich einige sehr ruhig verhalten. Darf sich einer dieser wenigen Köpfe aufgrund seiner Funktion gar nicht am Diskurs über eine Vergaberechtsreform beteiligen, findet ein Teil des Diskurses nicht oder in einer anderen Form statt. Das ist auch nicht optimal. Deshalb begann ich auszuloten, wie weit ich am Diskurs teilnehmen kann, ohne meine Unbefangenheit als Richter zu unterminieren. Das braucht einen trainierten inneren Kompass. Die Urteile haben sich durch mein öffentliches Engagement nicht verändert. Und während der vielen Jahre Vergaberechtsreform wurde kein einziger Befangenheitsantrag gegen mich gestellt. Dennoch freue ich mich darüber, dass mein Seiltanz mit dem revidierten Beschaffungsrecht einfacher geworden ist.

Wie das?

Ganz einfach: Heute erzählen das Gesetz und ich dieselbe Geschichte.

Sie können also mit leichterem Gewissen als Wanderprediger unterwegs sein?

Ganz genau! Wobei: eigentlich habe ich einigen Menschen in meinem engeren Umfeld nach der geglückten Reform versprochen, ich werde es fortan ruhiger angehen. Sie glaubten es mir nicht. Und sie hatten natürlich Recht (lacht).

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

Gerne gelesen? Hier gibt es mehr davon.