Vincents Visionen

Schwimminseln für Klimaflüchtlinge oder Algenfarmen, die Kohlendioxid für Luftschiffe wiederverwerten. In Vincent Callebauts Kopf ist alles möglich. Sein jüngstes Konzept nutzt Meeresmüll als Baustoff. („Quer“ Nr.01/2016)

90 Jahre nachdem Le Corbusier seinen Plan Voisin vorstellte, der einen Radikalumbau von Paris vorsah, trat im vergangenen Sommer der belgische Architekt Vincent Callebaut an einer TEDx-Veranstaltung in Frankreich auf. Ohne jeden Anflug von Ironie erklärte er sein Vorhaben, Paris neu zu bauen. «Paris Smart City 2050» heisst das Konzept, das der 38-Jährige im Auftrag der Pariser Stadtverwaltung entwickelt hat. Diese sucht nach greifbaren Visionen, um ihren ambitionierten Klimaschutzplan umzusetzen, der eine Reduktion der Treibhausgasemissionen in der Hauptstadt um 75 Prozent in den nächsten 35 Jahren vorsieht. Und Visionen, das ist Callebauts Kernkompetenz.

In den vergangenen Jahren waren die grellbunten Bilder von Callebauts Gedankengebäuden geradezu inflationär in den Medien präsent. Vor allem Online-Medien fahren ab auf das Material. Kein Wunder, denn Callebaut weiss, womit man in der modernen Informationsgesellschaft Aufmerksamkeit erlangt: mit Bildern, Videos und inspirierende Stories dazu.

Über ihn selbst weiss man indes wenig. Wie viele andere Kopfarbeiter seiner jungen Generation, stellt Callebaut sein Schaffen rege und aktiv zur Diskussion, nicht aber seine Person.

Blick frei machen
Callebaut – geboren 1977 – wuchs in einem kleinen Bergbauort in der westbelgischen Provinz Hennegau auf. Einst ein bedeutendes Steinkohlegebiet, verpasste es nach Weltkriegen und Weltwirtschaftskrise den Strukturwandel und endete als Region mit den höchsten Arbeitslosenzahlen ganz Belgiens.

In dieser wandlungsverschlafenen Gegend interessierte sich der kleine Vincent zunächst eher für den Obstgarten seiner Grosseltern, als für grosse Visionen. Erst als Jugendlicher entschied er sich für die Architektur. Er studierte in Brüssel, wo er im Jahr 2000 mit einer preisgekrönten Diplomarbeit abschloss. Dank Stipendien und mehreren Praktika fasste er danach in Paris Fuss, wo er sein Büro, Vincent Callebaut Architectures S.A.R.L, gründete. Bis heute haben ihm seine weitreichenden Ideen zahlreiche mehr oder weniger berühmte Preise eingebracht.

Mit seinem Büro lief Callebaut seither nie Gefahr, im Konventionellen zu veröden. Der Welt der Bauvorschriften, Bewilligungen und Zonenpläne entzieht er sich. Er sprengt Grenzen, um den Blick frei zu machen für das grosse Ganze. So entwickelte er 2005 beispielsweise mit «Geneva 2020» einen umfassenden Ansatz, wie Teile von Genf renaturiert werden könnten. 2008 stellte er den Prototypen «Lilypad» vor, eine autarke schwimmende Plattform, die 50 000 Klimaflüchtlinge aufnehmen kann. 2009 folgte mit «Butterfly » das wohl meistgezeigte Konzept Callebauts, in dem er ein knapp 600 Meter hohes Hochhaus mit integrierter vertikaler Landwirtschaft in den Hafen von New York stellte. Und 2010 das unfassbare Hydrogenase-Projekt, in dem eine Algenfarm Kohlendioxid für den Betrieb von biohydrogenen Luftschiffen wiederverwertet.

Inseln aus Plastikmüll
Mit seinen Konzepten der «ecological architecture » stellt sich Callebaut in eine Reihe mit Architekten, Wissenschaftlern und Intellektuellen, die sich im weitesten Sinne mit zwei Fragestellungen auseinandersetzen: Was tun, um den Klimakollaps abzuwenden? Und was tun, wenn das nicht gelingt? Letzteres inspiriert nicht nur Hollywood, sondern auch die Wissenschaft. Bereits 1986 wurde in Arizona etwa «Biosphere 2» gebaut. Es war der Versuch, mit einem luftdicht abgeschlossenen Komplex auf 13 000 Quadratmetern Fläche einen autarken Raum zu schaffen, in dem Menschen überleben könnten, wenn die Biosphäre 1 – die Erde – unbewohnbar geworden wäre. Callebauts «Lilypad»-Inseln waren 20 Jahre später im gleichen Kontext zu verstehen.

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Am Übergang zwischen Klimarettung und Post-Apokalypsen-Szenario ist nun Callebauts jüngstes Konzept anzusiedeln: «Aequorea». Die Vision findet wieder auf und unter der Wasseroberfläche statt, geht thematisch vom Problem der Meeresverschmutzung durch Plastikmüll aus und schlingert wieder zur Option der autarken Unterkunft von tausenden Klimaflüchtlingen. Bei den «Aequoreas» handelt es sich um Plattformen mit 500 Metern Durchmesser, die mit einem langen Unterbau tief ins Meer und indirekt bis an den Meeresgrund fortreichen, dabei aber schwimmende Körper sind. Gefertigt werden sollen die Konstrukte aus Algoplast, einem noch nicht erfundenen Baumaterial aus Algen und rezykliertem Plastik, das als Rohstoff für den 3D-Druck verwendet werden kann. Das Plastik wird dem Meer entnommen, wo jährlich Millionen Tonnen davon landen und mittlerweile veritable Müllinseln bilden.

Es ist der bestechende Teil des Konzepts und gleichzeitig ein Beispiel für Callebauts interdisziplinäres Denken, dass er anregt, den Meeresmüll als Ressource zu verstehen und damit dessen Beseitigung ökonomisch attraktiv zu machen. Unter der Wasseroberfläche zeigt sich, weshalb das Konzept nach einer Qualle (Aequorea victoria) benannt ist. Tentakelförmige Fortsätze umgarnen den vertikalen «Oceanscraper», der sich unterhalb der Plattform mit bis zu 250 Geschossen in die Tiefe schraubt. Die Arme sorgen gemeinsam mit der aquadynamischen Formgebung des Tiefhauses für eine stabile Lage des Gebildes im Wasser. Auf jeder «Aequorea» sollen bis zu 20 000 Personen leben und arbeiten können.

Auch bei diesem Konzept spielt der Gedanke der Autarkie und folglich der integrierten Landund Energiewirtschaft eine wichtige Rolle. Am Meeresgrund unterhalb der «Aequoreas» ist ein volutenförmiges Wasserkraftwerk angelegt, das umgeben ist von Wasserturbinen. In Strom umgewandelt wird einerseits Bewegungsenergie und andererseits thermische Energie, die aus dem Temperaturunterschied des Wassers am Grund und oben im «Gebäude» resultiert.

Für Trinkwasser wird Meerwasser entsalzt, Licht im Untergrund spenden Mikroorganismen in der doppelwandigen Aussenhaut. Sie produzieren ein Enzym, das Licht aussendet, sobald es oxidiert. Auch die namensgebende Meeresqualle weist am Rand ihres Körpers fluoreszierende Punkte auf.

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Der Detailgrad des Konzepts ist erstaunlich: Von Meeresmuscheln schaut sich Callebaut einen Prozess ab, mit dem die «Aequoreas» selbständig weiterwachsen könnten. Die Wassergefährte, die den Müll einfangen, weisen die Geometrie der Klein-Flasche auf. Sogar ein Preisschild hängt der Architekt seinem Projekt um: Mit 1950 Euro pro Quadratmeter lägen die Baukosten nach seiner Vorstellung unter dem Preis für einen mittleren Schweizer Ausbaustandard. Hier wie auch bei allen anderen Visionen betont Callebaut die technische und wirtschaftliche Realisierbarkeit seines Konzepts.

Wenig gebaut, viel inspiriert
Allerdings: Realisiert werden die Visionen bislang kaum. Rare Ausnahme ist «Agora Garden», ein nachhaltiger Wohnturm in Taipeh, der noch in diesem Jahr fertiggestellt werden soll. Und auch in Kairo steht ein Callebaut-Projekt in der Realisierungsphase. Ärgert es ihn nicht, dass von so viel Denkarbeit bislang nur wenig gebaut wird? Und wie finanziert sich ein Architekturbüro, das viel denkt, aber wenig baut? Solche Fragen möchte Callebauts Büro auch nach mehrmaliger Anfrage nicht beantworten. Dutzende Bilder von Projekten liefert es aber umgehend.

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

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