In New Canaan ist mit „The River“ von Sanaa für fast 70 Millionen Dollar ein Gebäude entstanden, das nichts wirklich ist: Es gibt kein drinnen und kein draussen. Es ist nicht so nachhaltig, wie es tut. Und unter keinen Umständen ist es keine Kirche, obwohl sie eine sein sollte. („Quer“ Nr.01/2016)
Nicht, dass es in New Canaan an Orten gefehlt hätte, die Menschen erstellten, um die Natur zu geniessen. Aus der Vogelperspektive erscheint die amerikanische Kleinstadt mit rund 20 000 Einwohnern wie eine einzige Wald- und Grünfläche. Die Bewohner des Städtchens mögen das Gefühl, so zu leben, wie sie sich vorstellen, dass es sich früher einmal lebte auf dem Land. Mit dem Zusatz, dass es sich um überaus reiche Bewohner handelt. Als vor 150 Jahren eine direkte Bahnverbindung zwischen New Canaan und der nur 50 Meilen entfernten New York City eröffnet wurde, wandelte sich der idyllisch gelegene Ort zusehends zum Weiler, in dem reiche New Yorker «ihre Wochenendhäuser bauten und in einer Luxusversion das einfache Leben der ersten Siedler nachspielten, das ihnen in der Millionenmetropole New York mehr und mehr abhanden kam», las man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Heute ist New Canaan die neuntreichste Gemeinde der USA, beim Einkommen pro Familie rangiert die Gemeinde landesweit auf Platz eins.
Auf diesem Nährboden aus Natur und Geld gedieh in den letzten Jahrzehnten so etwas wie ein Freiluftmuseum für modernistische Architektur. Philip Johnson baute hier sein berühmtes Glashaus. Mit ihm verwirklichte sich die «Harvard Five» im Ort, eine Gruppe, zu denen in den 1940er-Jahren auch Marcel Breuer, John Johansen, Landis Gores und Eliot Noyes zählten.
Ja keine Kirche
Am Nordrand dieses «Mekkas der avantgardistischen Architektur», wie es die NZZ jüngst nannte, entstand nun auf einem 32 Hektaren grossen wildnatürlichen Grundstück das Zentrum Grace Farms mit einem aussergewöhnlichen Hauptgebäude: «The River». Im vergangenen Herbst eröffnet, ist es das jüngste Werk des Pritzker- Preis-Duos Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (Sanaa).
Bauherrin ist die Grace Farms Foundation. Die Stiftung ist das Kind von Stiftungsratspräsidentin Sharon Prince und Gatte Robert, einem Spitzenkader bei Bridgewater, dem grössten Hedgefonds der Welt. Gemeinsam mit anderen Familien aus New Canaan gründeten die Princes nach der Jahrtausendwende die «Grace Community Church». Ein protestantischer Kirchenbau sollte folgen, das Grundstück war schon gekauft, aus der gemischtgläubigen Gemeinde gab es allerdings Widerstand dagegen. Nach Rechtsstreitigkeiten wurde das Vorhaben neu aufgegleist*.
Aus der Grace Church ging im Jahr 2009 die Grace Farms Foundation als karitative (und deshalb steuerbefreite) Stiftung hervor. Sie vertrat eine neue, betont religionsübergreifende Vision für das Grundstück und machte sich sogleich auf die Suche nach einem Architekturbüro. Die Direktiven für die Anlage waren weit gefasst: Gefragt war «a venue of cultural interest and curiosity via open space, architecture, art and design in order to provide people with an opportunity to: 1. Experience Nature 2. Foster Community 3. Persue Justice», und ganz zuletzt: «Explore Faith».
Im Sanaa-Büro in Tokio wusste man damit etwas anzufangen. Was Präsidentin Prince erstaunte: «Die Architekten sassen auf der anderen Seite der Weltkugel, verstanden aber sofort, was wir meinten.» Im März 2010 bekam Sanaa den Zuschlag, nur wenige Tage, bevor dem Büro der Pritzker Preis zugesprochen wurde. 67 Millionen Dollar liess es sich die Foundation schliesslich kosten, um einen Komplex zu bauen für ganz unterschiedliche Nutzungen, der aber auch ein klein wenig Kirche ist, selbst wenn man das Wort in den Projektunterlagen tunlichst vermeidet.
Fünf Teiche im Fluss
Aus den vagen Vorgaben entstanden ist zur Hauptsache ein 420 Meter langes Dach. Ein Dach auf schmalen Stahlstützen, das wie ein Fluss eine kleine Kuppe hinunter mäandriert. Unterwegs bilden sich darunter fünf teichähnliche, komplett verglaste Räume mit unterschiedlichen Grössen und Nutzungen. Zuoberst auf der Kuppe, nun also wieder an erster Stelle, thront der Kultraum für bis zu 700 Gäste. Er ist mit fast 2000 Quadratmetern der grösste Teich des Rivers. Und er ist, was «The River» eigentlich nicht sein darf: eine Kirche. Jeden Sonntag wird ein schlichtes Holzkreuz in den Raum gestellt und Gottesdienst gefeiert. Aber auch Vorlesungen finden hier statt.
Über Fusswege und Treppen geht es unter dem Baldachin hinunter zur kleinen Bibliothek, weiter zum stattlichen Ess- und Wohnpavillon mit Platz für 300 Personen, zum kleinen Teepavillon und ganz am Ende zum teilweise versenkten Sport- und Fitnessraum. Im Gebäude sollen Geist und Körper gefordert – und Austausch, Soziales sowie Kunst gefördert werden. «Die Möglichkeiten sind so offen wie Gebäude und Anwesen selbst», sagt Präsidentin Prince. Der Bau schmiegt sich in die wilde, aber von Sanaa und Landschaftsarchitekt Olin durchaus gestaltete Umgebung, als wäre er gar nicht da. Dafür sorgt die schlanke Konstruktionsweise mit runden Stützen und geschwungenen Stahlträgern, welche das mit Aluminiumpaneelen verkleidete Holzdach tragen. Und ebenso die geschwungenen grossflächigen Gläser, durch die die Grenze zwischen innen und aussen verschwimmt. Sanaa-typisch behielten die verwendeten Materialien ihre Eigenfarbe. Nur der Stahl ist weiss. Überhaupt reiht sich «The River» nahtlos in die bisherige Arbeit des Architektenduos ein, die geprägt ist von Reduktion. Ihr Beton-Kubus in Essen ist so schnörkellos wie genial. Das New Museum of Contemporary Art in New York ist ein Paukenschlag, gerade weil es sich mit einem zurückhaltenden Auftritt in einem wenig schönen Quartier begnügt. Betonschwer und doch federleicht schliesslich das Rolex Learning Center für die ETH Lausanne, mit dem Sanaa auch in der Schweiz ein fixer Begriff wurde. Aus heutiger Sicht besonders interessant war der Serpentine Gallery Pavillon, den das Tokioter Büro 2009 in London präsentierte: Mit ganz schmalen Metallstützen und einem schlanken, metallisch spiegelnden Dach wirkt der Pavillon wie ein Ultraleicht-Modell für «The River».
Odyssee der Materialien
So natürlich «The River» sich nun in die Grace Farm und in das Schaffen von Sanaa einfügt, so quer liegt das Gebäude punkto Nachhaltigkeit. Die Foundation legt zwar grossen Wert auf die Leed-Zertifikation der Baute. Und darauf, dass Geothermie genutzt wird. Und darauf, dass aus dem Holz der Bäume, die für das Gebäude weichen mussten, das Mobiliar gefertigt wurde, das Sanaa gleich mitentwarf.
Unerwähnt aber bleibt, dass die spektakulären Spezialgläser, von denen 220 Stück verbaut wurden, in England produziert, in Spanien gebogen und in Deutschland gefasst wurden. Oder auch, dass das Holz für das Dach – von der kleinen Latte bis zu 30 Meter langen verleimten Trägern – zwar von amerikanischen Spitzeichen stammt, diese allerdings tausende Kilometer entfernt an der kanadischen Westküste geschlagen wurden. Hervorgehoben wird stattdessen, dass auf der Baustelle keine Subunternehmer tätig waren, deren Büro weiter als 75 Meilen entfernt von New Canaan liegen.
Dass Grace Farms mit «The River» nicht nur für Wohlhabende zugänglich ist, sondern jedermann kostenlos offensteht, stimmt zwar versöhnlich. Dennoch ist «The River» – wie vieles andere auch im Ort: Minimalismus reicher Leute.
*Korrektur: Auf Hinweis der Agentur der Grace Farms Stiftung habe ich folgenden Satz im obigen Artikel abgeändert: „Nach Rechtsstreitigkeiten wurde das Vorhaben zurückgezogen und neu aufgegleist.“ Gemäss Agentur kam es nie zu einem Rückzug.