Die Schweizerische Vereinigung der Ingenieurinnen (SVIN) setzt sich seit 22 Jahren für Frauen und einen höheren Frauenanteil in technischen Berufen ein. Bau-Ingenieurin und SVIN-Vorstandsmitglied Anita Lutz ist Geschäftsführerin und Teilhaberin des Büros Dr. Vollenweider AG. Ein Gespräch über den Stand der Dinge. (intelligent bauen Nr. 01/2015)
«intelligent bauen»: Landauf, landab wird der Fachkräftemangel beklagt. Ingenieure sind gesucht. Ist für sie die Schweiz ein Schlaraffenland?
Anita Lutz: Natürlich ist sie das. Wir haben in der Schweiz sehr gute Konditionen, gerade wegen des Fachkräftemangels. Man findet Stellen, man findet auch Teilzeitstellen.
Sie zeichnen ein positives Bild. Gilt das auch für Ingenieurinnen?
Von den Berufsaussichten her ist die Situation für Ingenieurinnen attraktiv. Für Ingenieure übrigens auch. Vorbehalte sind gegenüber Frauen zwischen 25 und 40 Jahren in einzelnen Unternehmen nach wie vor existent. Demgegenüber gibt es viele Firmen, die ein echtes Interesse daran haben, das Geschlechterverhältnis zu verbessern oder gar auszugleichen. Das ist eine grosse Chance für die Frauen.
SVIN besteht seit 22 Jahren. Wie hat sich die Situation der Frauen in den zwei Jahrzehnten verändert?
Es sind heute mehr Frauen in Ingenieur-Berufen tätig als vor 20 Jahren. Als ich an der ETH Zürich studierte, lag der Frauenanteil unter den Studierenden im tiefen einstelligen Bereich. Heute weist die ETH insgesamt einen Frauenanteil von knapp 30 Prozent aus. Ich freue mich über mehr Frauen in der Praxis.
Was hat zu dem höheren Anteil geführt?
Die Rahmenbedingungen sind insgesamt besser geworden, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Es gibt heute bessere Betreuungslösungen. Die Herausforderung, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, ist allerdings nach wie vor gross.
SVIN vereint Ingenieurinnen aus unterschiedlichen Branchen. Wie unterschiedlich sind die Situationen in den einzelnen Branchen?
Es gibt Unterschiede, aber keine fundamentalen. Die Frauenanteile sind verschieden, in der Maschinen- und Elektrotechnik sind sie sehr niedrig, bei den Bau- oder Lebensmittelingenieuren sind sie deutlich höher. Ich wüsste aber keinen Bereich, in dem es eine Frauenmehrheit gäbe.
Was tut SVIN, um den Frauenanteil in den Ingenieur-Berufen zu erhöhen?
Die SVIN zeigt auf, dass Ingenieurinnen bei der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Es ist uns darum ein wichtiges Anliegen, junge Frauen für eine Ausbildung in diesen Tätigkeitsgebieten zu motivieren. Wir bieten unsere Mitglieder mit Stammtischen, Veranstaltungen und Weiterbildungen ein berufliches und persönliches Beziehungsnetz. Gegen aussen sind wir mit dem Projekt KIDSInfo an den Primarschulen und vermitteln Schülerinnen und Schülern ein positives Technik- und Ingenieur-Image. Ganz aktuell ist das SVIN-Impulsprogramm «Kultur-Wegweiser», ein Pilotprojekt, das wir im vergangenen Jahr lanciert haben und das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG) finanziell unterstützt wird.
Worum geht es?
Das Projekt geht von den Fragen aus: Weshalb hat es heute in den Führungsgremien der Unternehmen so wenig Frauen? Und welches sind die hierfür verantwortlichen Stolpersteine? Für die Pilotphase haben wir fünf Unternehmen identifiziert, in denen jeweils fünf Mitarbeiterinnen sowie die Geschäftsleitungen mitmachen werden. Ab März werden wir mit den Frauen workshopartig ausloten, wo sie im Unternehmen stehen, welche Ziele sie verfolgen und welche Stolpersteine vorhanden sind. Das Ergebnis wird in einen Führungskräfte-Workshop einfliessen, in welchem die jeweilige Unternehmensführung ihrerseits versucht, Hindernisse und Probleme zu identifizieren und vor allem, ein, zwei ganz konkrete Zielsetzungen zu definieren und umzusetzen. Die Pilotphase mit den fünf Unternehmen sollte noch dieses Jahr abgeschlossen werden können. Später soll daraus ein Angebot entstehen, das sich an alle interessierten Firmen richtet.
Welches sind heute die zentralen «Stolpersteine und Karrierehemmnisse» für Frauen?
Zunächst ist das sicher die Familiensituation, die geregelt werden muss. Die meisten Eltern entscheiden sich, gemeinsam nicht mehr 200, sondern oft zwischen 100 und 160 Prozent zu arbeiten. Da mit der Teilzeitarbeit nach wie vor die Befürchtung verknüpft ist, die Karriere nicht vorantreiben zu können, fällt die Entscheidung vielfach so aus, dass ein Partner weiterhin 100 Prozent arbeitet. Aus verschiedenen Gründen ist das meist der Mann. Weitere Hemmnisse finden sich im Unternehmen: Ist gewährleistet, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezahlt wird? Sind flexible Arbeitszeitmodelle möglich? Wie viel Prozent muss jemand im Büro sitzen, um ein guter Chef/eine gute Chefin zu sein? Es geht dabei auch um Fragen der Unternehmenskultur.
Oft wird den Frauen simpel zu wenig Selbstbewusstsein vorgeworfen.
Es geht nicht um Selbstbewusstsein, sondern um eine andere Denkart. Wenn Kaderstellen zu besetzen sind, beobachtet man häufig, dass sich Männer aktiv anbieten und anpreisen. Frauen tun das eher nicht, was ihnen dann oft als mangelndes Selbstbewusstsein oder fehlender Biss ausgelegt wird. Dabei sagt dieses Verhalten nichts über die Kaderqualitäten aus. Dazu ein Bild: Zwei Autos fahren hintereinander auf einer unübersichtlichen Strasse. Das vordere Auto etwas langsamer, das hintere Auto käme gerne rascher ans Ziel. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Die Aussichtslosigkeit und Gefährlichkeit eines Überholmanövers akzeptieren und gemächlich, dafür ausgeglichen im Ziel ankommen. 2. Ein bisschen drängeln und so möglicherweise die Chance bekommen, doch noch zu überholen und zügig, wenn auch mit dem Risiko, dass der Vordere nervös wird und langsamer fährt. Beide Varianten können im übertragenen Sinne in einem Unternehmen gefragt sein. Welcher Typ das Unternehmen will und braucht, muss die Geschäftsleitung entscheiden. Zumindest ich als Chefin sollte mich nicht davon beeinflussen lassen, ob jemand zu mir kommt und sagt, er sei die beste Wahl.
Nebst konkreter Frauenförderung will SVIN junge Menschen insgesamt vermehrt für Ingenieur-Berufe begeistern. Wie kann das gelingen?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage. Es spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle. Wie begegnen wir unserer Umwelt? Was begeistert uns? Welche Bilder, auch Rollenbilder, werden vermittelt? Welche Vorbilder sind vorhanden? Dann gibt es handfeste Missstände: In der Schule müssen etwa die naturwissenschaftlichen Fächer deutlich attraktiver werden. Hingegen halte ich es für falsch, dass bereits in frühen Schuljahren so viele Sprachen unterrichtet werden. Hier ist ein Umdenken nötig.
Ingenieure hatten vor 50 Jahren einen hervorragenden Ruf. Heute sind Anstrengungen nötig, um genügend Nachwuchs zu haben. Was ist da passiert?
Vielleicht hat die Technik die Leute abgehängt. Wenn man früher eine Autopanne hatte, öffnete man die Motorhaube und schaute nach, was los ist. Heute ist das unmöglich. Die Wichtigkeit des Ingenieurberufs ist nicht mehr sichtbar. Die Gesellschaft ist getrieben vom Schwall an Innovationen und neuen Entwicklungen. Dabei müsste das Verhältnis so sein, dass wir als Gesellschaft bewusster sagen müssten, in welche Richtung geforscht werden soll. Damit das möglich ist, muss jedes Kind die Gelegenheit haben, Technik kennen zu lernen und so das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie Technik unser Leben beeinflusst. Dann erkennt es auch, wie markant wir als Techniker diese Entwicklung mitgestalten können.
Im November des letzten Jahres hat der Bundesrat eine Geschlechterquote von 30 Prozent für Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte grösserer börsenkotierter Gesellschaften beschlossen. Ist das sinnvoll?
Wenn ich nur mit Ja oder Nein antworten soll, dann sage ich Ja. Allerdings bedaure ich es sehr, dass die Wirtschaft eine deutlichere Veränderung nicht aus eigener Kraft zustande brachte. Eine solche Quote wird in Verwaltungsräten einfach umzusetzen sein. In den Geschäftsleitungen wird es schwieriger. Ich fürchte, dass gerade in Berufen, in denen die Frauenanteile eher klein sind, nun zunächst Frauen aus dem HR und der Administration in die Geschäftsleitung befördert werden. Immerhin. Aber damit sind nicht alle Probleme gelöst.
Reichen die heutigen Anstrengungen aus, damit mehr Frauen in Ingenieur- Berufen arbeiten?
Für mich gibt es keinen plausiblen Grund, weshalb sich die Frauenanteile in der Ausbildung nicht weiter erhöhen sollten. Ingenieur- Berufe sind hoch interessant und ermöglichen es, ein Berufsleben lang immer wieder Neues zu lernen und auszuprobieren. Weshalb sollte das nur Männer ansprechen?
Wer muss sich mehr anstrengen, damit sich die Frauenanteile in der Praxis stärker erhöhen?
In erster Linie gefragt sind die Geschäftsleitungen und Führungskräfte in den Unternehmen.
Weshalb ist die ausgeglichene Geschlechterverteilung überhaupt nötig?
Ausgeglichene Teams funktionieren anders und produzieren ganzheitlichere und damit bessere Lösungen. Davon profitieren die Unternehmungen sowie die Gesamtgesellschaft.
Wie sind Sie selbst zum Bau-Ingenieurwesen gekommen?
Das hat sich eher so ergeben. Ich kam in die Kanti, Typus B mit Latein. Nach einem Weilchen realisierte ich, dass ich mit weniger Aufwand zum Abschluss käme, würde ich in den naturwissenschaftlich-technischen Typus wechseln. Aus dem taktischen Entscheid ist schliesslich eine Faszination für die Technik hervorgegangen. Meine Studienwahl erfolgte dann aber wenig gezielt. Ich hätte mich für das Forst-Ingenieurwesen interessiert. Davon wurde mir, zumal als Frau, abgeraten. Das regte mich damals nicht einmal auf. Ich suchte etwas Ähnliches – und landete bei den Bau-Ingenieuren.
Sie sind Geschäftsführerin, Verwaltungsratspräsidentin und Teilhaberin des Geotechnik-Büros Dr. Vollenweider AG. Wie ist Ihr Büro aufgestellt, um für Frauen besonders attraktiv zu sein?
Erfahrungsgemäss ist es so, dass sich bei weiblichen Chefs tendenziell mehr Frauen auf offene Stellen bewerben. Auch an Hochschulen gibt es dort mehr Studentinnen, wo Professuren an Frauen vergeben wurden. Daneben ist klar: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Sie haben Ihre Karriere gemacht. Waren Sie mit Problemen konfrontiert, weil Sie eine Frau sind?
Ich hatte Glück. Ich habe nie einen Nachteil gespürt. Ich wurde sogar eher gefördert, weil ich eine Frau bin.
Störte es Sie nicht, gefördert zu werden, weil Sie eine Frau sind?
Weshalb sollte mich das stören? Mir wurde nichts geschenkt, mir wurden nur Chancen geboten. Nutzen musste ich sie selbst.