Obwohl sie in einem der sichersten Länder der Welt leben, sorgen sich zahlreiche Schweizer um ihre Sicherheit. Der Druck auf das Strafrecht wird grösser. Es droht eine Spirale. (Schweiz am Sonntag, 16.02.2014)
Die Strafanstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf führt eine mehrmonatige Warteliste. Im Basler Strafvollzug werden Notbetten aufgestellt. Im kantonalen Gefängnis Schaffhausen sind immer wieder Einzelzellen doppelt und Doppelzellen dreifach belegt. In Bern wurde ein verurteilter Mann auf freien Fuss gesetzt, weil im Gefängnis kein Platz mehr war.
Im Schweizer Strafvollzug herrscht Dichtestress. Das Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichte vergangene Woche Rekordzahlen: 7072 erwachsene Personen sassen am Stichtag im September 2013 in Schweizer Gefängnissen. 21 Prozent mehr als 1999. Mit 7048 verfügbaren Haftplätzen resultierte erstmals eine Belegungsrate von über 100 Prozent (siehe Grafik). Sehr hoch ist der Anteil ausländischer Insassen: 74,3 Prozent.
Zu den überfüllten Gefängnissen tragen höhere Kriminalitätsraten bei. Aber auch eine Null-Risiko-Strategie der Behörden: Verurteilte Personen würden heute tendenziell länger in Haft behalten, erklärte Florian Funk vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich gegenüber der «NZZ».
Trotzdem reagierte die SVP empört auf die neue Gefängnisstatistik: Sie zeige «das totale Versagen der Politik, wenn es um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger geht», heisst es in einem Communiqué.
Ängste trotz hoher Sicherheit
Das totale politische Versagen in Sicherheitsfragen prangert die SVP in einem Land an, das zu den sichersten weltweit zählt. Die jüngste «RiskMap» von Control Risks, einem britischen Beratungsunternehmen für Risikomanagement, nennt weltweit nur eine Handvoll Länder mit «unerheblichem» Sicherheitsrisiko: die skandinavischen Staaten, Slowenien – und die Schweiz. Der sehr weit gefasste Global Peace Index führte die Schweiz im vergangenen Jahr auf Rang 5 der friedlichsten Länder. Nur Island, Dänemark, Neuseeland und Österreich waren besser platziert.
Dennoch: Hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer sorgen sich um ihre Sicherheit. Sichtbar wird das etwa im Sorgenbarometer der Credit Suisse, wo die «persönliche Sicherheit» seit Jahren zuverlässig zwischen Rang 5 und 7 rangiert. Jeweils zwischen einem Viertel und einem Drittel der Befragten nennen sie als eines der fünf wichtigsten Probleme der Schweiz.
Die gefühlte Unsicherheit in einem Teil der Bevölkerung wird befeuert durch steigende Zahlen nicht nur zur Gefängnisbelegung, sondern auch durch die jüngste Kriminalstatistik (siehe Kasten). In besonderem Mass befördert wird sie durch schwere Verbrechen mit viel Medienaufmerksamkeit wie zuletzt der Mord an der Genfer Sozialtherapeutin Adeline M. im September 2013.
In sozialen Netzwerken und in Kommentarspalten von Online-Medien wird nach solchen Ereignissen Angst, Wut und Verzweiflung sichtbar. Dann wird deutlich: In einem der sichersten Länder der Welt herrscht Unzufriedenheit darüber, wie der Staat für Sicherheit sorgt und vor allem, wie er mit Fehlbaren umgeht.
Strafrecht spiegelt Volksseele nicht
Muss man solche Bedenken im Hochsicherheitsland Schweiz ernst nehmen? «Auf jeden Fall», sagt Lukas Gschwend, Professor für Strafrecht an der Universität St. Gallen. In einem demokratischen Rechtsstaat müsse dem Empfinden der Bevölkerung Rechnung getragen werden. Das Volk habe mit dem Strafrecht historisch betrachtet die Ausführung von Rache und Vergeltung an den Staat delegiert. Das funktioniere jedoch nur zuverlässig, wenn die Urteile der Gerichte von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen und nachvollzogen werden können. Doch da hapere es. «Das Strafrecht spiegelt die Volksseele kaum», sagt der Strafrechtsprofessor. Er hält es deshalb für fol gerichtig, dass Parlamentarier nur sieben Jahre nach der Inkraftsetzung des revidierten Strafgesetzbuches über Verschärfungen brüten.
Bei der letzten Revision des Strafgesetzbuches wurde die Schraube tendenziell gelockert. Kurze Haftstrafen wurden durch unbedingte oder gar bedingte Geldstrafen ersetzt. Aufseiten der Massnahmen wurde die kleine Verwahrung eingeführt. Im Vergleich zum alten Strafrecht werden schwere Verbrecher heute nur verwahrt, wenn die Nicht-Therapierbarkeit festgestellt ist. Andernfalls kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme anordnen.
Risiko einer Spirale
Die Einschätzung, wonach das heutige Strafrecht nicht den Vorstellungen der Bevölkerung genügt, wird in der Politik von bürgerlicher Seite geteilt und dürfte mehrheitsfähig sein. «Das Volk hat heute grösstenteils kein Verständnis für die milden Strafen gegenüber Sexual- und Gewaltstraftätern», sagt etwa Natalie Rickli, SVP-Nationalrätin und Mitglied der Kommission für Rechtsfragen. Sie spüre in der Bevölkerung eine grosse Unzufriedenheit über das Strafgesetzbuch und über viele Urteile.
Ähnlich schätzt ihr Aargauer Kommissionskollege, BDP-Nationalrat Bernhard Guhl, die Lage ein: Die Annahme der Verwahrungsinitiative sei ein klarer Gradmesser über das Stimmungsbild gewesen, das «bisher nicht adäquat in die Gesetzgebung und die Urteile eingeflossen ist», sagt er. Er erwarte deshalb vom Bundesrat eine generelle Verschärfung der Strafen.
Weniger Zündstoff sieht der Ausserrhoder FDP-Nationalrat Andrea Ca roni. «Im Grossen und Ganzen» decke sich das Strafrecht mit der Haltung der Gesellschaft. Denn in einer dynamischen Demokratie könne das Recht ja nicht allzu lange von den Vorstellungen der Mehrheit abweichen. Bei Diskrepanzen sei schnell ein Vorstoss oder eine Volksinitiative zur Stelle.
SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen sieht die Priorität an anderer Stelle. Das Strafrecht spiegle die Einstellung der Bevölkerung. Besonders das revidierte Jugendstrafrecht gebe den Jugendgerichten viele Möglichkeiten, Strafen, Massnahmen und Therapien anzuwenden. «Viel zu lasch werden einzig noch Steuerdelikte behandelt», sagt sie.
Strafrechtsprofessor Gschwend geht davon aus, dass es in den nächsten Jahren im Strafrecht zu Verschärfungen kommt. Denn grundsätzlich müsse reagiert werden, wenn gesetzgeberische Mängel zutage treten. Es bestehe allerdings das Risiko, dass aufgrund von Stimmungen in der Bevölkerung, die bewusst politisch genutzt würden, eine Spirale zu drehen beginne, hin zu unverhältnismässiger Restriktion.
Sobald der Rauch des letzten Abstimmungssonntags verflogen ist, wird sich die Dynamik in der Sache zeigen. Am 18. Mai befindet die Bevölkerung über die Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen».
Verurteilungen nach Strafgesetzbuch
Im Jahr 2012 stiegen die Zahlen in der Strafurteilsstatistik sprunghaft an. Laut Bundesamt für Statistik (BFS) wurden 105 678 Urteile im Zusammenhang mit Vergehen oder Verbrechen gefällt, ein Höchststand mit 9,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Gut die Hälfte davon waren Verurteilungen nach Strassenverkehrsgesetz, mit 37 239 Urteilen folgten Verurteilungen nach Strafgesetzbuch StGB mit 35,1 Prozent Anteil an zweiter Stelle.
Über die letzten gut 60 Jahre kann die Entwicklung der Verurteilungen nach Strafgesetzbuch grob in drei Phasen unterteilt werden: Zwischen 1950 und 2001 wurden mit Schwankungen Jahr für Jahr um die 20 000 Verurteilungen nach StGB vorgenommen. Im gleichen Zeitraum stieg die Be völkerungszahl von 4 717 200 auf 7 255 653 um 53,8 Prozent an. Relativ zur Wohnbevölkerung nahm die Zahl der Verurteilungen während eines halben Jahrhunderts ab.
Nach 50 Jahren Stillstand verschob sich die Kurve zwischen 2002 und 2004 auf ein neues Niveau von gut 20 000 Verurteilungen pro Jahr auf knapp 30 000 Ver urteilungen pro Jahr. Fälle von Diebstahl, Körperverletzung und anderen Gewaltverbrechen nahmen zu.
Ab 2005 verläuft die Kurve – auf neuem Niveau – wieder konstant um 30 000 Verurteilungen pro Jahr herum. Das Niveau liegt mit Schwankungen etwa 50 Prozent höher als Mitte des 20. Jahrhunderts, bei einer um 60 Prozent höheren Bevölkerungszahl. Auf lange Sicht haben die Verurteilungen relativ zur Bevölkerungszahl also abgenommen. Ob das Jahr 2012 mit 37 239 Verurteilungen einen neuen Trend einläutet oder ein statistischer Ausreisser ist, wird sich erst zeigen, wenn neuere Zahlen veröffentlicht werden.