Lange Jahre hielten Kosovaren, Bosnier und Serben den schwarzen Peter in der Hand. Sie galten als gewalttätig und unintegriert. Jetzt sorgen delinquierende Tunesier für negative Schlagzeilen – die Ex-Jugoslawen erleben dasselbe wie vor ihnen die Tamilen. (Schweiz am Sonntag, 02.09.2012)
Als das Bundesamt für Migration kürzlich die Halbjahreszahlen zu den Asylgesuchen präsentierte, hielt Direktor Mario Gattiker fest: «Die Asylsituation bei Bund und Kantonen ist angespannt.»
Um fast 50 Prozent sind die Asylgesuche innerhalb eines Jahres angestiegen. Doch angespannt ist die Lage nicht primär deshalb – sondern darum, weil unter den Neuankömmlingen eine Gruppe für Aufruhr sorgt: die Tunesier.
Diese Nordafrikaner prägten in den vergangenen Monaten die Asyl-Diskus sion. Trotz eines Anteils von nur 10 Prozent an der Gesamtzahl der Asylgesuche – im vergangenen Jahr waren es 2574 Gesuche von Tunesiern –, haben sie es aufgrund ihres Hangs zur Kriminalität zu Protagonisten der täglichen medialen Berichterstattung gebracht.
In manchen Kantonen schnellte durch das Wirken der Tunesier die Kriminalitätsrate der Asylbewerber bis auf 77 Prozent. Im Aargau zählte man in den ersten fünf Monaten dieses Jahres fast 600 aufgebrochene Autos. Im Kanton Jura gab der Polizeichef gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zu Protokoll: «Im 2012 haben alle im Jura präsenten Tunesier Straftaten begangen.» Kein Zweifel: Die tunesischen Asylsuchenden sind zur Belastungsprobe für das Schweizer Asylwesen geworden.
Eine andere Ausländergruppe dagegen gerät auf einmal aus dem Fokus. Die «Jugos», die lange Jahre mit einem lausigen Image zu leben hatten. Nach über einem Jahrzehnt voller Negativmeldungen über Macho-Pöbeleien, Schlägereien, Messerstechereien, Drogendelikten oder immer wieder auch Raser-Fällen scheinen die «Jugos» jetzt den medialen schwarzen Peter an Asylsuchende aus Nordafrika abgegeben zu haben.
Arbeitsmigranten aus dem Balkan kannte man in der Schweiz bereits seit den 1960er-Jahren. Die Stimmung verschärfte sich aber erst, als während der 90er-Jahre im Zuge der Balkankriege mehrere zehntausend Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz strömten.
Der schlechte Ruf der Zugewanderten hatte Bestand, selbst als zahlreiche Balkan-Flüchtlinge nach den Kriegen längst wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren. Speziell ausgeprägt war das negative Image der Kosovaren.
Doch jetzt, da im Zuge des Arabischen Frühlings Asylbewerber aus Nordafrika in die Schweiz kommen, nimmt der Druck auf die «Jugos» ab – der öffentliche Fokus liegt jetzt auf den Tunesiern. Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: In den letzten zwölf Monaten wurden zu den Schlagwörtern Asyl und Tunesien über 40 000 Zeitungsartikel abgelegt. In Kombina tion mit den Balkanstaaten liefert das Archiv dagegen nur zwischen 5000 und 10 000 Dokumente.
Dass die Asylsuchenden aus dem Balkan zumindest vorderhand nicht mehr im Brennpunkt des öffentlichen Interesses liegen, zeigte sich auch Mitte August, als das BFM über Zahlen und ein neues Vorgehen informierte: Das Amt kommunizierte steigende Zahlen bei den Asylgesuchen aus den Balkanstaaten Mazedonien, Serbien und Bosnien – und kündigte an, über die entsprechenden Gesuche neu innert 48 Stunden entscheiden zu wollen. Während die Beschleunigung des Verfahrens auf breite Zustimmung stiess, löste die Information über die Zunahme der Balkan-Gesuche kaum negative Berichte aus.
Auch in den Asylzentren machen sich die veränderten Verhältnisse bemerkbar, wie Julia Morais gegenüber dem «Sonntag» bestätigt. Die Leiterin der Fachstelle für Integrationsfragen des Kantons Zürich weiss von Besuchen, dass sich Asylbewerber aus Balkan staaten mittlerweile mit Nachdruck beschwerten: über das inakzeptable Verhalten ihrer tunesischen Mitbewohner nämlich.
Dass das schlechte Ansehen von den «Jugos» zu den Tunesiern überging, erstaunt Ekin Yilmaz, Co-Präsidentin des Immigranten-Vereins Second@s Plus Schweiz, nicht: «Es sind immer die Neuankömmlinge, die das schlechteste Image übernehmen. Von den ‹Tschinggen› über die ‹Jugos› bis zu den Tunesiern; die neuen, fremden Gruppen kommen zunächst einmal unter die Räder», sagt sie.
Da bedeute es für eine Zuwanderergruppe eine Art Entlastung, wenn die gröbste negative Medienaufmerksamkeit einmal vorüber sei. Yilmaz betont jedoch, dass es niemanden freuen sollte, wenn eine neue Zuwanderergruppe die Aufmerksamkeit aufgrund negativer Vorkommnisse auf sich ziehe.
Bashkim Iseni ist Mazedonier mit kosovarischen Wurzeln. Vor 23 Jahren kam er mit seinen Eltern in die Schweiz. Er studierte Politikwissenschaft und leitet heute in Lausanne albinfo.ch, eine Newsplattform für die «albanischsprachige Schweiz».
Dass Immigranten aus dem Balkan Image-Profiteure der Flüchtlingswelle aus Tunesien seien, will er nicht ohne Ergänzung stehen lassen. Nach einer zehn und mehr Jahre andauernden Integrationsarbeit könne eine Verbesserung des Rufs der «Jugos» nicht allein auf die aktuellen Ereignisse zurückgeführt werden. Trotz leichter Verbesserungen sei der Integrationsprozess für Balkan-Immigranten noch lange nicht abgeschlossen. Klar sei jedoch: «Für den weiteren Verlauf der Integration ist es hilfreich, wenn Leute aus dem Balkan seltener Hauptdarsteller in den Nachrichten sind», sagt Iseni.
Das Staffetten-Phänomen war schon früher zu beobachten. Als das Image der «Jugos» im Verlaufe der 1990er-Jahre immer schlechter wurde, verbesserte sich der Ruf einer anderen Asylbewerbergruppe: der Tamilen. Vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen, kamen ab 1983 zahlreiche Tamilen, zunächst vorwiegend junge Männer, in die Schweiz. Hier wurden sie zu den ersten Opfern der bis heute fortgeführten Stafette des schlechten Asylbewerber-Images.
Während man 1956 und 1968 noch grosse Gruppen meist gut gebildeter ungarischer und tschechischer Flüchtlinge mit offenen Armen in der Schweiz begrüsste, fragte man sich bei den weniger gebildeten tamilischen Kriegsflüchtlingen, wie sie sich wohl ihre Lederjacken leisten konnten. Rasch wurde eine Verbindung mit dem Drogenhandel hergestellt. Der Ruf der Tamilen verbesserte sich, als ihnen Familiennachzug und Erwerbstätigkeit erlaubt wurden. Fortan waren die fleissigen und anspruchslosen Arbeiter hauptsächlich im Gastgewerbe gerne gesehen.
Im Unterschied zu den Zuwanderern aus dem Balkan kann bei den Tamilen bis heute nicht von einem Integrationsprozess gesprochen werden. Über die Jahre etablierte sich ein gleichgültiges Nebeneinander. Dieses wurde auch nicht erschüttert, als vor zwei Jahren statistisch aufgezeigt wurde, dass die Tamilen höhere Kriminalitätsraten aufweisen als die «Jugos». Man konnte das gar nicht so recht glauben.