Trotz Politikverdrossenheit ist kein Politiker-Nachwuchsproblem zu befürchten – auch dank Social Media. (Schweiz am Sonntag, 01.07.2012)
Als Ende Mai eine Handvoll Nationalräte auf Twitter nach einem Schlagwort suchten, unter dem die Diskussionen über die nun abgeschlossene Session ablaufen sollte, war das der SRF-Online-Redaktion ein Beitrag wert. «Session beginnt für Jungparlamentarier auf Twitter», lautete der Titel. Der Seitenhieb eines Juso-Mitglieds auf der Kurznachrichten-Plattform folgte rasch: «Ü-30-Typen sind für mich nicht jung.» Die Tonalität ist typisch für die nachrückende Polit-Generation: frech, gradlinig, kompromisslos. Über Social Media laufen die Diskussionen pausenlos. Pausenlos öffentlich.
«Studentenproteste!» – «Wieso demonstrieren sie, löli?» – «Was laberst du?» So liest es sich, wenn Pascal und Marcel Bührig aus Zürich auf Twitter wieder einmal aneinander geraten. Die Brüder sind Vertreter dieser jungen Nonstop-Politiker. Pascal, 20-jährig, ein hagerer Kerl, ist Praktikant in der Kommunikationsabteilung der SP Schweiz. Er ist Vorstandsmitglied der Juso des Kantons Zürich und Sekretär der Juso Stadt Zürich. Im Herbst will er ein Studium in Volkswirtschaftslehre aufnehmen.
Marcel, 18-jährig, ein Typ mit Postur, hat soeben seinen Abschluss an der Informatikmittelschule gemacht. Bis vor drei Tagen war er Mitglied der GLP Stadt Zürich. Aus Protest gegen das jüngste Abstimmungsverhalten der Fraktionen im Nationalrat sowie dem Zürcher Kantonsrat, in welchem die GLP in heiklen Fragen mit der SVP votierte, gab er am Donnerstag den Partei-Austritt bekannt. Um sogleich den Beitritt zu den Jungen Grünen zu verkünden. Im August beginnt er ein Praktikum als Webdesigner.
Die beiden leben bei ihren Eltern. Die Wohnung befindet sich in einem aufgeräumten Stadtzürcher Quartier, im Hauptsitz der Neuapostolischen Kirche Schweiz. Die Eltern sind aktive Mitglieder der Gemeinschaft, Marcel auch, Pascal nicht mehr. «Wohlbehütet, christlich, konservativ», so beschreiben die Brüder ihr Aufwachsen.
Vor zwei Jahren holte Pascal zur Gegenbewegung aus: Er tauchte kurz in die links-autonome Szene ein. «Ich wollte nicht länger einer sein, der stumm ausführt, was andere von mir erwarten», sagt er. Nachdem im November 2010 die Ausschaffungsinitiative angenommen wurde, setzte sich Pascal für eine Zusammenarbeit der Autonomen mit den Juso und den Jungen Grünen ein. Das stiess den Autonomen sauer auf. Pascal fühlte sich eingeengt. Und trat den Juso bei. «Ich will einmal von mir sagen können, ich habe zu einer moderneren Gesellschaft beigetragen», sagt er.
Marcel wurde durch das Ja zur Minarett-Initiative im November 2009 politisiert. «Das Resultat löste ein schlechtes Gefühl in mir aus. Ich merkte jedoch, dass ich zu diesem und vielen anderen Themen keine fundierte Meinung hatte», sagt er. Das wollte er ändern. Er erarbeitete sich Standpunkte und verglich sie mit jenen der Parteien. Die GLP passte am ehesten. Ihr trat er bei. «Wer sich nicht am politischen Prozess beteiligt, darf sich nicht darüber aufregen, wenn falsche Richtungen eingeschlagen werden», sagt Marcel.
Die Nicht-Teilnahme am politischen Prozess ist in der Schweiz bekanntlich verbreitet, zumal unter Jungbürgern. Nimmt man deren Beteiligung an eidgenössischen Wahlen als Gradmesser, liegt ihr politisches Interesse deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Gemäss Selects-FORS-Bericht zu den eidgenössischen Wahlen 2011 lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 24-Jährigen bei 32 Prozent. Der Gesamtdurchschnitt lag bei 49 Prozent. Von den über 75-Jährigen gingen 70 Prozent an die Urne.
Angesichts dieser Zahlen darf sich die Jugend nicht beklagen, wenn ihr Politik-Faulheit unterstellt wird. Interessant: Ein Mangel an politischem Nachwuchs scheint sich demgegenüber nicht anzubahnen. Auf Anfrage des «Sonntags» hat sich keine Jungpartei über ausbleibende Mitglieder beklagt (siehe Box).
Die Eltern von Pascal und Marcel nehmen die politische Euphorie ihrer Sprösslinge zur Kenntnis. Zwar strengt Vater Reymond die ewige Debattiererei an und hat Mutter Gabriele Angst, wenn Pascal wieder an eine Demo geht. Aber es ist ihnen recht, dass sich ihre Kinder gesellschaftlich engagieren. Sie seien bloss froh, dass sie sich von der politischen Rechten abgrenzen, sagt der Vater. Die Ablehnung war auf Twitter nachzulesen, nachdem der Nationalrat diese Woche verschiedene Verschärfungen im Asylwesen beschlossen hatte. Pascal rief zur Teilnahme an einer Demo «gegen die faschistoide Asylpolitik dieses Staates» auf. Marcel fragte seine Fraktion: «Wollt ihr mich verarschen?»
Doch die Momente brüderlicher Einigkeit sind rar. Oft fahren sie auf Kollisionskurs. Pascal von weit links her. Marcel irgendwo von der Mitte aus. Dabei ist das Dialogverhalten klar: Pascal ist der redegewandte Draufgänger, der mit einem Schwall zugespitzter Phrasen sein Gegenüber aus der Reserve zu locken versucht. Dabei gestikuliert er wild und rutscht auf dem Stuhl hin und her. Auf Twitter benutzt er auch mal Fäkalsprache. Marcel ist der Bedachte, der sich nur schwer aus der Reserve locken lässt. Wenn er spricht, tut er das nur mit dem Mund. Auf Twitter ist er der Reaktive. Er kommentiert, ist eher harmlos.
Nachgeben wollen beide nie. EU, Gesundheitswesen, Steuern – es braucht nur Stichwörter, schon sind Debatten lanciert. Eine solche löst auch die Frage aus, ob sich ihre Generation angesichts von Studierenden- und Tanz-Protesten derzeit politisiert. Marcel sieht die Zutaten vorhanden, den Willen aber nicht. Pascal spricht vom «Beginn einer Repolitisierung».
An eine solche mag Politikberater Mark Balsiger (aus 25 Jahren Distanz) nicht glauben. Eine Politisierung der Jugend-Massen erkenne er nicht. Eine ereignisorientierte Politisierung sei durch die Etablierung von neuen Kommunikationskanälen zwar jederzeit möglich, so Balsiger. «Dauerhaft und im grossen Stil dürfte sie bei uns allerdings nicht eintreten. Dafür sind wir schlicht zu satt.»
Der Befund dürfte bei Pascal und Marcel für eine neuerlich endlose Diskussion sorgen. Darin sind sie geübt. Nonstop-Jungpolitiker kennen keine Redezeitbeschränkung.
Von Null- und Negativ-Wachstum
Fragt man bei den Jungparteien nach, ist entweder von konstanten (Junge CVP ca. 2000 Mitglieder, Junge EVP ca. 330 Mitglieder) oder steigenden (Jungfreisinnige ca. 4000 Mitglieder, Juso ca. 3000 Mitglieder) Zahlen die Sprache. Die Gegenkontrolle mit einem Bericht vom «Blick am Abend», der am 18. Mai 2011 über die Mitgliederzahlen der Jungparteien informierte, bestätigt die genannten Tendenzen. Fragen werfen die Angaben der Jungen Grünen sowie der Jungen SVP auf. Auf Anfrage des «Sonntags» nennt Christof Schauwecker, Generalsekretär der Jungen Grünen, eine Mitgliederzahl von 1305, bei steigender Tendenz. Im Vergleichsartikel liest man jedoch: «Die Jungen Grünen haben in den letzten zwei Jahren ihre Mitgliederzahl um einen Drittel auf 1496 Mitglieder erhöht.» Weshalb haben die Jungen Grünen trotz Dauerwachstum heute weniger Mitglieder als vor einem Jahr? Ähnliches Szenario bei der JSVP: Präsident Erich Hess gibt an, die Partei zähle rund 6500 Mitglieder. «Die Tendenz ist steigend.» Vor Jahresfrist las man: «Mit 6500 Mitgliedern und 10 bis 15 Prozent Wachstum bleibt die JSVP Spitzenreiter». Weshalb bleibt bei steigender Tendenz die Mitgliederzahl dieselbe? Die Jungen Grünen erklären den Widerspruch mit der Einführung einer neuen Mitglieder-Datenbank, mit der noch nicht alle Sektionen arbeiten wollen. Erich Hess lieferte hingegen keine Erklärung für das tendenziell steigende Nullwachstum.