Tell wird hundert

Bühne frei für das Jubiläum. Vor 100 Jahren wurde auf der Freilichtbühne bei Interlaken erstmals Schillers Wilhelm Tell aufgeführt. Seit bald einem Vierteljahrhundert schiesst Peter Rubi den Apfel ab. Er ist noch immer ein Volltreffer. (via Nr. 04/2012)

Ein kühler Frühlingstag. Auf dem «Rütli» liegen letzte Schneelecken, in der «hohlen Gasse» einzelne gefrorene Pfützen. Die Berge tragen Schleier. Mit klammen Fingern legt Tell den Pfeil auf die Armbrust. Sein Atem entweicht als Wolke. Das Fell am Leib wärmt wohl, die Holzschuhe unter den nackten Füssen tun es nicht. Und so zittern sowohl Tell als auch Sohn Walterli vor dem epochalen Schuss wie Espenlaub. «Häb still», ruft Tell. «Mach vorwärts», erwidert Walter. Beide sind froh, gilt es noch nicht ernst.

Es ist das erste Mal dieses Jahr, dass sich zwei Protagonisten der Tellspiele Interlaken, Peter Rubi (52) und Jani Claes (13), als Tell und Walter aus dem geheizten Übungsraum auf die weitläufige Freiluftbühne wagen. Es warten noch unzählige Proben bis zur ersten Aufführung der Saison im Juni. Dieses Jahr soll es besonders gelingen. Denn genau vor hundert Jahren, am 19. Mai 1912, wurde an selbiger Stelle in Matten bei Interlaken erstmals das Tellspiel zur Aufführung gebracht. Eingebettet zwischen Thuner- und Brienzersee, sekundiert im Hintergrund vom Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau. Knappe hundert Kilometer von Altdorf entfernt, Tells Heimat, will man der Legende glauben.

Ein Leben in Selbstbestimmung

Ob es um 1291 herum einen Wilhelm Tell gegeben hat, ist Gegenstand von Diskussionen. Die Frage jedoch, ob es heute einen adäquaten Wilhelm Tell gibt, ist geklärt, wenn Peter Rubi die Szene betritt. Der kräftige Mann wirkt, als wäre er einem historisch angehauchten Bildband entsprungen. Und so lebt er auch. Auf der Axalp, hoch über dem Brienzersee, führt er mit seiner Familie ein Leben in Abgeschiedenheit und Selbstbestimmung. Er betreibt einen Laden und vermietet ein paar Dutzend Betten. Bereits seit 22 Jahren verkörpert Rubi den Tell. «Hätte das damals jemand prophezeit, hätte ich laut gelacht und demjenigen den Vogel gezeigt», sagt er. Aber natürlich sei es eine Ehre, hier den Tell spielen zu dürfen, wiederholt er mehrmals. Sogar sein privates Glück hat ihm die Rolle gebracht. Noch bevor ihn seine Frau als Peter Rubi kennen lernte, sah sie ihn als Tell auf der Bühne. Dieses Jahr wird sein Sohn als «Fischerbueb » erstmals eine gemeinsame Szene mit Papa Tell spielen. Mit seiner schauspielerischen Ausdauer befindet sich Rubi bei den Tellspielern in guter Gesellschaft. «Langjähriges Engagement ist bei den Tellspielen nichts Aussergewöhnliches », weiss Peter Wenger (65), Präsident des Vereins Tellspiele Interlaken. Im Ensemble gebe es zahlreiche Frauen und Männer, die zwischen 800 und 1000 Vorstellungen auf dem Buckel hätten. Mit etwas über 1000 Auftritten ist eine ältere Dame einsame Rekordhalterin. Bei jährlich gut 20 Vorstellungen macht das rund ein halbes Jahrhundert als aktive Spielerin. «Keiner ist besser als der andere. Jeder ist für den Erfolg wichtig. Das macht uns zu einer grossen Familie », erklärt Wenger die grosse und lang anhaltende Identifikation der Beteiligten an dem Theater. Das sei der Schlüssel zum Erfolg.

Der Lehrer ist schuld

Schuld daran, dass in der Region ganze Verwandtschaften mit dem Tell-Virus befallen sind, war ein Mattener Lehrer. August Flückiger sollte vor einer sechsten Klasse in Geografie und Geschichte über den Vierwaldstädtersee und die Urschweiz dozieren, was ihn bald einmal zu trocken dünkte. In Schillers Tell fand er eine geeignete Mischung aus Geografie, Geschichte und spannender Fiktion. Lehrer Flückiger beschloss, das Stück mit seiner Klasse zu erarbeiten und aufzuführen. Allerdings nicht in der engen Schulstube, sondern unter freiem Himmel, in echter Landschaft und mit echten Erfahrungen. Im Sommer 1909 führten die Schüler ihr Stück im kleinen Rahmen auf. Das Feuerchen loderte weiter. Drei Jahre später fand das Spiel erstmals in einem grossen, offiziellen Rahmen statt. Seither wird es mit wenigen Ausnahmen – beispielsweise während der Kriegsjahre – jährlich aufgeführt. Ein Ende ist nicht abzusehen. Mit Sicherheit auch nach einem allfälligen Ende der Ära Rubi. Darauf angesprochen meint er nur: «Die Spatzen pfeifen da etwas vom Dach». Dann schweigt er, schultert die Armbrust, schlendert vorbei an den Häusern der Freilichtbühne, blickt hinüber auf die grosse, noch leere Tribüne und verschwindet hinter der hohlen Gasse.


 

Warum Walter den Stimmbruch fürchtet…

Bereits in der vierten Saison spielt der gebürtige Deutsche Jani Claes (13) den Walterli. einer seiner Vorgänger ist Michael Horn. Heute spielt Horn (40) im Wechsel mit Peter Rubi den Tell.

Ist es vertretbar, den Tell ohne Bart zu spielen?
Michael Horn: Der Tell auf dem «Füfliiber» trägt bekanntlich auch keinen Bart. Ob der echte Tell Bartträger war, ist ebenso wenig geklärt, wie die Frage, ob es einen echten Tell überhaupt je gab. Insofern nehme ich einen gewissen Interpretationsspielraum in Anspruch.

Nach mehreren Jugendrollen waren Sie 17 Jahre lang nicht mehr auf der Bühne. Was hat Sie zur Rückkehr bewogen?
Das Spiel hat mich während meiner Jugendzeit stark geprägt. Aus beruflichen und familiären Gründen machte ich dann eine Pause. Die Lust, wieder zu spielen, ist allerdings nie ganz verschwunden, ja ich musste sie teilweise regelrecht unterdrücken. Als mir im vergangenen Jahr zu Ohren kam, dass die Rolle des Tells neu besetzt wird, konnte nicht widerstehen.

Hat es sich gelohnt?
Unbedingt. Es war definitiv ein Nachhausekommen. Ein sehr schönes Gefühl.

 

Wie reagieren deine Schulkollegen auf deine Schauspielerei?
Jani Claes: Unterschiedlich. Einige beneiden mich. Andere machen sich lustig darüber, weil sie inden, ich sähe auf den Werbeplakaten jeweils komisch aus.

Gibt es ein maximales Alter, mit dem man den Walter noch spielen darf?
Es kommt eher darauf an, wann bei mir der Stimmbruch einsetzt. Walter mit Stimmbruch geht halt nicht.

Möchtest du eine andere Rolle übernehmen, wenn du den Walter nicht mehr spielen kannst?
Unbedingt. Ich habe bereits die eine oder andere Figur im Visier. Rollen allerdings, bei denen der Stimmbruch wiederum schon vorbei sein muss.

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.