Jonas Bichsel, 26, Industriekletterer, arbeitet dort, wo es nicht sinnvoll ist, auf andere Weise hinzugelangen: an exponierten Stellen, hoch über allen Köpfen, über dem Abgrund. Er ist dabei sicherer als auch schon. (die baustellen Nr. 08/2011)
Es ist die Höhe, die mich fasziniert. Schon lange. Bereits als kleines Kind hat mich das Klettern interessiert. Meine Grosseltern waren Mitglieder beim Schweizerischen Alpen Club. Vielleicht hat da etwas abgefärbt. Mit zehn Jahren bin ich erstmals in einen Kinderkletterkurs. Das Virus, das schon lange in mir schlummerte, bin ich nicht mehr losgeworden. In einem Kletterbuch sah ich zum ersten Mal überhaupt ein Foto von Industriekletterern. Die Männer auf dem Bild arbeiteten am Eiffelturm. Das wär no e Job, dachte ich mir. Doch zunächst kam es anders. Ich machte eine Lehre als Dachdecker. Nach der Ausbildung blieb ich noch anderthalb Jahre auf dem Beruf. Allerdings störte ich mich zunehmend an den oft zu knappen Zeitvorgaben für die Arbeit. Immerzu hechelte man einen halben Schritt hinter dem Zeitplan her. Schliesslich wurde ein Wechsel fällig. Ich arbeitete fortan bei einer Bühnenbauer- Roadie-Crew, mit der ich Bühnen für Veranstaltungen aufbaute. Da wurden oft Gerüste aufgebaut, um die Installationen hoch über den Bühnen anzubringen. Dafür kamen Kletterer zum Einsatz, denen ich handlangerte und mit denen ich aufgrund meiner Kletterleidenschaft schnell ins Gespräch kam. Ohne konkret zu wissen, ob ich wirklich in die Branche einsteigen würde, meldete ich mich schliesslich für einen Level-1-Kurs für Industriekletterer an. Er berechtigt zur Arbeit am hängenden Seil. Nach dem Kurs kam mir zufällig das Job- Inserat von Eidex, meinem jetzigen Arbeitgeber, in die Hände. Das ist nun drei Jahre her. Mittlerweile kann ich mir vorstellen, den nächsten Kurs zu machen, der mich berechtigen würde, eine Baustelle zu leiten. Doch ich bin nicht der Typ, der allzu weit in die Zukunft plant.
Spektakulär anzusehen
Das Spektrum der Arbeiten, die wir erledigen, ist sehr breit: Werbeplakate oder Beschriftungen anbringen, Reinigungen, Installationen. Das Klettern ist Mittel zum Zweck, Leidenschaft hin oder her. Ein guter Handwerker, der sich für unseren Job interessiert, kann die Klettertechnik erlernen. Ein schlechter Handwerker nützt allerdings niemandem etwas, selbst wenn er gut klettern kann. Zwei linke Hände darf man also nicht haben. Risiko und Gefahren sind Themen, nach denen wir häufig gefragt werden. Das ist verständlich, wirkt unsere Arbeit doch spektakulär. Rückblickend muss ich jedoch feststellen: Als Dachdecker begab ich mich in weit gefährlichere Situationen, ohne Seil. Heute hänge ich an zwei Seilen und werde immer von einem Kollegen begleitet. Denn eine allfällige, schnelle Rettung muss stets gewährleistet sein. Hängt einer bewusstlos im Seil, geht es um Minuten, weil der Klettergurt die Blutgefässe abschnürt. Mit der Suche nach dem «Kick» hat unsere Arbeit nichts zu tun. Einen Unfall hatte ich noch nie.
Privat ohne Seil
Mein Beruf hat meine private Leidenschaft nicht verdrängt. Ich liebe das Klettern nach wie vor. Allerdings habe ich wenig Lust, privat auch noch den Klettergurt zu tragen. Deshalb gehe ich oft «bouldern», erklettere Felsbrocken ohne Seil, dafür mit Matte darunter. Meine Freundin ist nicht vom Klettervirus befallen. Ein, zwei Mal jährlich kommt sie mit, mehr nicht. Dass ich sowohl beruflich als auch privat an exponierten Orten unterwegs bin, bereitet ihr keine grossen Sorgen, glaube ich. Sie weiss, dass ich nicht auf der Suche nach Risiken bin. Sie sagt bloss jeden Morgen: «Häbsch Sorg!»