«Zu grosse Räume. Zu grosse Fenster. Zu viel Licht.»

Die Gesellschaft verändert sich rasant, die Wohnstrukturen humpeln langsam hinterher. Wohnen wir, wie wir wollen? Weshalb sind gewisse 60er-Jahre-Wohnbauten wieder Kult? Und weshalb sind Betonwände mühsam? Marie Glaser, Leiterin des ETH Wohnforums an der ETH Zürich, weiss es. („Quer“ Nr.02/2016)

«Quer»: Wann sind Sie zuletzt umgezogen?
Marie Glaser: Letzten Februar. Wir haben ein zweites Kind bekommen und brauchten mehr Wohnraum.

Hatten Sie Mühe, etwas zu finden?
Wir fürchteten, nie eine passende Wohnung in unserem Zürcher Quartier zu finden. Nachdem wir bereits Monate davor unsere Verwaltung über den Umzugswunsch informiert hatten, klingelte dann aber plötzlich das Telefon und man bot uns eine frei werdende grössere Wohnung in unserer Liegenschaft an. Es war ein aussergewöhnlicher Glücksfall.

Im April fand die Jahrestagung des ETH-Wohnforums statt. Titel: «Der gerechte Preis». Unterzeile: «Wie schafft man kostengünstigen und qualitätsvollen Wohnraum?» Billig und gut – ist das gerecht?
Nicht unbedingt, nein. Im Zentrum der Tagung standen nicht Rezepte für billiges Bauen, sondern Konzepte für günstiges Wohnen. Und zwar günstig in dem Sinne, dass Wohnangebote gemacht und gesichert werden können, in denen ein gerechtes Verhältnis besteht zwischen dem, was man an Miete bezahlt und dem, was als Haushaltseinkommen zur Verfügung steht.

Wer macht solche Angebote?
Ich denke zunächst an gemeinnützige und kommunale Projekte. Mittlerweile gibt es aber auch Akteure im privaten Sektor, die die Nachfrage erkannt haben und gezielt Wohnraum im preiswerten Segment schaffen wollen.

In Zürich wurden im vergangenen Jahr 37 Prozent aller neuen Wohnungen von Genossenschaften gebaut. Wird die Stadt dadurch gerechter? P1090893
Ich würde sagen, sie bleibt gerecht. Um sie gerechter zu machen, müsste der Anteil noch höher liegen. Ganz sicher wäre die Stadt ohne gemeinnützige Angebote viel stärker segregiert. Durch das heutige Angebot ist eine gute Durchmischung gewährleistet. Nicht in jedem Quartier, das muss auch nicht sein, aber doch über die Stadt hinweg.

Genf und Zürich sind im internationalen Vergleich kleine Städte. Sie zählen seit Jahren zu den teuersten Städten der Welt. Die Idee, dass sich an diesen kleinen Super-Hotspots Menschen jeder Einkommensklasse Wohnraum leisten können sollen, ist doch absurd.
Nein. Denn eine Stadt ist erst eine Stadt, wenn verschiedene soziale Gruppen daran teilhaben können. Durch soziale Mischung entsteht erst, was jene, die viel Geld haben und unbedingt in die Zentren ziehen wollen, an diesen Städten so schätzen: Urbanität. Und gleichzeitig haben sie selbst ja in der Regel gar keine Zeit, um das städtische Leben herzustellen, das sie so gerne mögen.

Wenig ausserhalb der Stadtgrenzen sind die Mieten bereits deutlich günstiger. Gleichzeitig wächst alles zusammen. Müssen wohnpolitische Fragen grossräumiger verhandelt werden?
Vermutlich schon. Unter der Voraussetzung allerdings, dass die Infrastrukturen in diesem grösseren Raum so angelegt sind, dass es gerechten Zugang gibt für alle. Problematisch wird es zum Beispiel dann, wenn ein Armutsbetroffener, der in Zürich einer Arbeit nachgeht, so weit von Zürich weg wohnen muss, dass er sich den Arbeitsweg zeitlich und finanziell eigentlich gar nicht leisten kann.

Wohnt die Schweizer Bevölkerung insgesamt so, wie sie wohnen will?
Aufgrund von Umfragen, die regelmässig zu solchen Themen durchgeführt werden, kann man annehmen, dass die meisten recht zufrieden sind mit ihrer Wohnsituation. Sie wohnen relativ gut – und auf einem im internationalen Vergleich unglaublich hohen Standard. Anders die knapp zehn Prozent der Bevölkerung, die an der Armutsgrenze entlangschrammen. Sie wohnen an schlechten Lagen, in schlechten Bedingungen und gemessen daran zu überhöhten Preisen.

Sie haben schon mehrfach kritisiert, dass bei Sanierungen durch zahlreiche Vorgaben und insgesamt hohe Standards aus vergleichsweise preisgünstigem Wohnraum teurer Wohnraum gemacht wird. Müssen hier Vorgaben gelockert werden?
Man muss zumindest darüber diskutieren, ob das unter gewissen Umständen denkbar wäre. Denn irgendwann ist eine Grenze erreicht, wenn es nach wie vor möglich sein soll, preisgünstigen Wohnraum bereitzustellen. Altbauten sind in den Städten jene Objekte, in denen preisgünstiges Wohnen noch möglich ist. Werden die Altbauten nach und nach durch Sanierung im Niveau angehoben, verschwindet günstiger Wohnraum. Das ist ein Problem, dem man mit sozialpolitischen Überlegungen begegnen muss und nicht nur mit Marktlogik begegnen darf.

Die Gesellschaft hat sich in den letzten 20 Jahren massiv verändert. Trotzdem wohnt ein Grossteil noch in alten Strukturen. Wann und wie ändert sich das?
Die Gesellschaft, in der wir leben, ist mit Sicherheit dynamischer als die Strukturen, in denen wir wohnen. Obwohl Ausnahmeerscheinungen, sind Projekte wie «Mehr als wohnen» oder die Wohn- und Gewerbesiedlung Kalkbreite in Zürich deswegen wichtig. Sie bieten Raum, um neue Wohnformen realisieren und ausprobieren zu können. Diese Wohnformen müssen nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber durch Ausprobieren können Erkenntnisse gewonnen werden, die uns weiterbringen und irgendwann auch der breiteren Bevölkerung zugute kommen.

Das Lochergut in Zürich ist ein bekanntes Beispiel für eigentlich überholte Strukturen aus den 1960er-Jahren. Das Lochergut steht jedoch nicht leer, sondern ist Kult. Wie ist das zu erklären?
Das liegt weniger an den Strukturen, als mehr daran, dass dort an städtischer Toplage vergleichsweise preiswerte Wohnungen angeboten werden. Das lockt eine junge, kreative, oft noch kinderlose Klientel an, die aber nicht ewig dort wohnen wird.

Kann es der Anspruch sein, Wohnraum zu schaffen, in dem eine Klientel ihr Leben verbringt?
Nein. Es geht darum, dass alte Strukturen heute die Bedürfnisse einer klaren Zielgruppe möglicherweise sehr gut befriedigen, jene von anderen Zielgruppen dafür fast gar nicht. Darauf kann man konstruktiv aufbauen, indem man beispielsweise versucht, alte, tendenziell kleinere Wohnstrukturen gezielt auf Alterswohnen auszurichten. Das würde Sinn machen. Denn entsprechende Gebäude stehen oft an zentralen Lagen, verfügen über Aufzüge und gute Haustechnik und entsprechen nicht zuletzt einer Struktur, die ältere Menschen eher gewohnt sind.

Stattdessen werden für Alterswohnen neue, moderne Wohnungen gebaut, in denen sich ältere Leute oft nicht wohl fühlen. Wie kommen solche Fehlausrichtungen zustande?
Das hat bereits mit der Ausbildung zu tun. Es ist eben nicht Hauptfach der künftigen Architektinnen und Architekten, über die künftigen Nutzerinnen und Nutzer ihrer Gebäude nachzudenken. Im Zentrum der Ausbildung steht der architektonische Entwurf. Man muss aber auch sagen, dass entsprechende Anforderungen in Wettbewerben oftmals zu wenig klar formuliert werden. Beispielsweise Genossenschaften können hier ihre Erfahrungen und Erwartungen klarer einbringen, wenn sie Neubauten wollen.

Ein Bauherr möchte eine neue Siedlung erstellen. Geben Sie ihm einen Rat. P1090916
In der neuen Siedlung sollte mit einem vielfältigen Angebot unterschiedlichen Nutzergruppen Raum zur Verfügung gestellt werden: Einen gefächerten Wohnungsmix mit kleinen bis grossen Wohnungen, so dass Umzug innerhalb der Siedlung möglich wird. Mit verschiedenen Wohnmodellen. Mit Abstufungen aus privaten, halböffentlichen und öffentlichen Raumangeboten, die Begegnung und damit sozialen Austausch ermöglichen. Und ganz wichtig: Mit einer intelligenten Erdgeschossnutzung.

Sie haben in einem Interview gesagt, die Vereinheitlichung von mittel- bis hochpreisigen Immobilien gefalle ihnen nicht. Das habe blossen Repräsentationscharakter, da finde keine Wohnlichkeit statt. Woran machen Sie fest, wo Wohnlichkeit stattfindet und wo nicht?
Wohnlichkeit ist etwas Atmosphärisches. Sie hat zu tun mit Räumen, die beispielsweise in verschiedener Hinsicht Graduierung schaffen: Grössere Räume, mittlere Räume, kleinere Räume, Räume mit mehr Einsicht, geschütztere Räume, hellere Räume, dunklere Räume. Demgegenüber sehen wir heute häufig lichtdurchflutete offene Raumkonzepte mit grossen Fenstern. Das mag aus gewissen Gründen toll sein. Tatsächlich sind jedoch viele Leute überfordert mit viel zu grossen Räumen, mit viel zu viel Fensterfläche und viel zu viel Licht. Hinzu kommen Materialien, die zwar lange halten, die es im Gegenzug aber kaum erlauben, dass man sich die Wohnung als Nutzer in irgendeiner Art aneignen kann, um sie individueller zu gestalten. In meiner Wohnung haben wir beispielsweise Betonwände, wie man sie heute oft sieht. Um da ein Bild aufzuhängen, brauche ich eine Bohrmaschine und muss dübeln. Das ist doch mühsam.

Es braucht günstig herzustellende, energetisch sparsame, architektonisch gute, hochverdichtete, aber doch harmonische und zugleich Vielfalt fördernde Wohnbauten, in denen bezahlbarer Wohnraum verfügbar ist. Verliert man da manchmal die Hoffnung?
Nein. Weil ich weiss, dass es Leute gibt, die hier und heute über das Wissen und die Erfahrung verfügen, wie man solche Ansprüche vereinen kann. Man kann sich von ihnen beraten lassen, sei es als Bauherr oder auch als Planer.

Es wäre also eine faule Ausrede, wenn man behauptete, die Ansprüche liessen sich nicht unter einen Hut bringen?
Ja.

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

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