«Ich glaube an die Vernunft»

Er diagnostiziert eine Verdichtungs-Euphorie und tritt dem Hochhaus-Trend mit pointierten Voten entgegen. Ein Gespräch mit Vittorio Magnago Lampugnani, Architekt und Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. (Sonderheft zu intelligent bauen Nr. 12/11)

Viele sprechen von «Verdichtung», vermutlich meinen aber nicht alle dasselbe damit. Existiert eigentlich eine mehrheitsfähige Definition des Begriffs?
Vittorio Magnago Lampugnani: Eine konkrete Definition gibt es nicht, weil es die Verdichtung nicht gibt. Es existieren verschiedene Arten der Verdichtung in der Stadt, die bauliche Verdichtung ist eine davon. Aber auch für diese bauliche Verdichtung können die unterschiedlichsten Spielarten diskutiert werden.

Die Meinung, verdichtetes Bauen sei nicht nötig, ist nicht zu hören. Wie ist das zu erklären?
Das aktuelle und dringliche Problem des ungebremsten Landverbrauchs und der damit einher gehenden Zerstörung der Landschaft ist einleuchtend, nicht nur für Fachleute. Das führt zu einem breiten Konsens. Allerdings ist es einfach in Mode, von Verdichtung zu sprechen. Ob dieser trendigen Verdichtungs-Euphorie wird mir ein bisschen Bange. Wir dürfen schliesslich nicht übersehen, dass sich die Stadt seit dem 18., spätestens aber seit dem 19. Jahrhundert immer von vor exzessiver Verdichtung zu befreien und zu schützen versuchte.

Handelt es sich also um einen Trend, der bald wieder in Vergessenheit gerät?
Nein. Denn die lockere Stadterweiterung, wie wir sie bislang gepflegt haben, können wir uns schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr leisten. Ich fürchte nicht das Vergessen. Ich sehe die Gefahr, dass man in der gegenwärtigen Euphorie eine Dichte anstrebt, die keine angenehme Wohn- und Lebenssituation schafft. Dass man die Verdichtung um der Verdichtung Willen übertreibt.

In einem Interview mit dem «Tages Anzeiger» sagten Sie, wir hätten gar keine andere Wahl, als konzentriert zu bauen. Die Wahl hat man jedoch immer, solange man bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Wie sähen diese aus?
Ein unverantwortlich verschwenderischer Landschaftsverbrauch durch überwiegend ineffiziente Bauten und durch den Ausbau von Strassen, Autobahnen, S-Bahnen. Dazu kommt die sehr schlechte ökologische Bilanz in der Peripherie. Und last but not least, ihre gleichermassen schlechte ökonomische Bilanz. Bislang hat noch niemand die tatsächlichen Kosten berechnet, welche die Peripherie in ihrer heutigen Ausprägung erzeugt. Täte man das, was übrigens eine interessante Forschungsaufgabe wäre, würde offensichtlich, dass wir uns das weder leisten können noch wollen.

Die Zersiedelung schreitet voran. Jede Sekunde wird ein Quadratmeter Land verbaut.  Glauben Sie, dieser Umstand und dessen Auswirkungen sind einer breiten Bevölkerung bewusst?
Ich denke schon. Um die Auswirkungen real zu erleben, muss man ja nur in der Gegend herum fahren. Das Problem ist, dass viele die Peripherie und deren Entwicklung ablehnen – sie aber dann doch als Wohnort wählen, wenn sie ein Haus bauen oder eine Wohnung kaufen. Sie tun das aus den bekannten privatökonomischen Gründen.

In letzter Konsequenz gewinnt das individuelle finanzielle Interesse. Wie soll das geändert werden?
Ich glaube an die Vernunft der Menschen, wenn auch nicht an die schnelle Vernunft.

Ist es eine Generationenfrage?
Nicht nur. Immer mehr Menschen begreifen, wohin uns die heute Besiedlungs-Entwicklung führt. Daraus resultieren überraschende Effekte: In Wallisellen beispielsweise wird derzeit nach unseren Plänen das Richti-Quartier gebaut, für Walliseller Verhältnisse ein hoch verdichteter urbaner Komplex. Über das Projekt musste in der Gemeinde abgestimmt werden, es gab Polemik und harte Diskussionen. Am Schluss sprach sich jedoch eine grosse Mehrheit für das neue Quartier aus, weil es schöne Wohnungen an grossen grünen Höfen bietet, Arbeitsplätze in die Gemeinde holt und wenig Platz verbraucht.

Jede Gemeinde lässt separat über die grösseren Projekte abstimmen. Wird das noch möglich sein, wenn man effizient und nach einer übergeordneten Strategie nachhaltig bauen will?
Ja, aber es muss Grenzen geben. Man müsste sich zum Beispiel darauf einigen, dass man in bestimmten Bereichen eine bestimmte Dichte erzeugt. In der Zürcher Peripherie macht es doch überhaupt keinen Sinn, nicht dicht zu bauen, dafür ist der Druck einfach zu gross. Realistischerweise ist die Zürcher Peripherie als Stadt zu betrachten, auch wenn manche Einwohner nach wie vor von ihrem Dorf sprechen.

Wo beginnt die Stadt und wo endet sie?
Das muss jede Stadt nach dem Entwicklungsbedarf und den Möglichkeiten der Innenverdichtung selbst entscheiden. Persönlich glaube ich, es ist wichtig, eine solche Grenze so scharf wie nur irgendwie möglich zu ziehen.

Das heisst: Zirkel ansetzen, einen Kreis um die Stadt ziehen?
Ja. Der Zirkelschlag muss natürlich den Gegebenheiten und Möglichkeiten entsprechen. Wenn man Grenzen setzt, entsteht Erfindungsreichtum. Plötzlich werden auch Grundstücke bebaut, die ohne Grenzsetzung brach lägen.

Welche Rolle spielt das Geld?
Wie gesagt: Es wäre aufschlussreich, einmal die effektiven Kosten zu ermitteln, die unsere Peripherie verursacht. Heute wird in der Regel individuell und kurzfristig gerechnet: niedrigere Grundstückspreise, niedrigere Mieten, niedrigere Steuern. Das zweite Auto oder die Zeit, die fürs Pendeln verwendet werden muss, wird meistens nicht einkalkuliert.

Für viele Menschen wird diese Kalkulation hinfällig, weil sie sich das Wohnen und Leben in der Stadt leisten können.
Genau; und das ist letztlich die grundsätzliche Bedingung für all das, was wir hier besprechen. Verdichtung baut darauf auf, dass die Menschen in der Stadt leben wollen – und können. Entsprechend muss es in einer Stadt auch bezahlbare Wohnungen geben. Nicht nur, aber auch.

Heisst das, der Staat müsste viel strenger eingreifen, wenn die Strategie einer nachhaltigen Entwicklung umgesetzt werden soll?
Absolut. Die Schritte und Subventionen, die dafür erforderlich wären, würden sich auszahlen im Vergleich mit den wiederum staatlichen Investitionen für die Erschliessung der Peripherie.

Trauen Sie es dem Staat zu, dass er den nachhaltigen Weg verordnet?
Durchaus, denn der Staat hat die Zersiedlung zwar unterstützt, aber nicht erfunden. Wir Architekten und Stadtplaner sind mit schuld an der heutigen Situation. Denn seit dem Ende des 2. Weltkrieges war unser Leitbild die aufgelockerte Stadt. Die haben wir als die gute Lösung für das Wohnen angepriesen. Und die Politik hat genau das realisiert.

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, Sie wollen sich nicht permanent von Architektur belästigt fühlen. Passiert Ihnen das in Zürich?
Nein, zum Glück nicht. Aber es ist schon so, dass ich die Ruhe der alten Quartiere sehr schätze.

Die alten Quartiere profitieren von einer gesellschaftlichen Verwurzelung, welche ganz neu erstellten Stadtteilen noch fehlt und diese teils kühl und abweisend erscheinen lässt. Inwiefern lässt sich planen, ob Neues jemals so belebt und akzeptiert wird, wie es bei älteren Quartieren der Fall ist?
Es gibt das böse Wort, wonach die Stadtplaner erfunden wurden, um den Astrologen zu mehr Respekt zu verhelfen. Nein, planen lässt es sich nicht. Aber die Voraussetzungen für städtisches Leben und Aufenthaltsqualität können wir durchaus bewusst und gezielt schaffen.

Das Angebot wird von der Bevölkerung nicht immer angenommen. In Zürich Oerlikon wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Parks angelegt, die weitgehend frei sind von Besuchern.
Diese Plätze werden schlecht besucht, weil sie zu gross, schlecht proportioniert und überwiegend unfreundlich gestaltet sind. Und sehr wichtig: In den angrenzenden Liegenschaften befinden sich nicht in ausreichendem Mass Läden, Restaurants oder sonstige öffentliche Einrichtungen.

Oft heisst es, man müsse Neuem die Zeit lassen, um sein Publikum zu finden. Wie viel Zeit soll da eingeräumt werden?
Werden offensichtliche städtebauliche Fehler gemacht, wie das in Oerlikon der Fall gewesen ist, bleiben sie, egal, wie lange man wartet.

Wie kann es bei grossen, öffentlichen Neuentwicklungen zu «offensichtliche Fehlern» kommen?
Natürlich ist etwas nicht falsch, bloss weil ich sage, es sei falsch. Der Städtebau ist eine Wissenschaft ohne Axiom. Ich bin überzeugt, dass man eine Stadt nur aus der historischen Erfahrung heraus entwickeln kann. Diese Methode gibt dem Stadtplaner unter anderem  die Möglichkeit zu beurteilen, welche Strukturen sich bewährt haben und welche nicht. Dabei geht es natürlich nicht darum, bestehendes Blind zu kopieren. Aber die Proportionen, Räume und Verhältnisse bieten die Basis für einen Lernprozess.

Es existieren divergierende Meinungen. Wie können diese im Sinne einer nachhaltigen Gesamtstrategie unter einen Hut gebracht werden?
Eine Gesamtstrategie kann durchaus Raum lassen für unterschiedliche Ansichten. Trotzdem glaube ich, dass es richtige und falsche Stadtformen gibt. Natürlich macht jeder von uns Fehler. Eine Möglichkeit, die Fehlerquote zu reduzieren ist, nicht allzu sehr den Moden und dem Zeitgeist zu folgen. Auch das lehrt die Geschichte.

Sie sind international tätig. Wie wird die Diskussion um bauliche Verdichtung im Ausland geführt?
Sie wird unterschiedlich geführt und zeitigt entsprechend unterschiedliche Ergebnisse. Doch im internationalen Kontext steht die Schweiz gut da im Vergleich mit ihren Nachbarn, zum Beispiel mit meinem Land Italien.

Was läuft in Italien – im Thema Verdichtung – schief?
Ich kritisiere die Peripherie von Zürich. Aber verglichen mit der Peripherie von Mailand ist sie eine Idylle. Dort herrscht Wildwuchs aufgrund von Mangel an Kontrolle und Planung. Die nördliche Peripherie von Mailand – ein hoch entwickeltes Gebiet mit viel Industrie, viel Geld und hoher Produktivität – ist von der Ordnung des Territoriums her eine Katastrophe und vermutlich ein hoffnungsloser Fall. Es gibt keine Infrastruktur, die wohl jemals in der Lage sein wird, den Menschen, die dort wohnen und arbeiten, eine annehmbare Mobilität zu bieten. Entweder sie drängen sich wie die Sardinen in schlecht funktionierende S-Bahnen. Oder sie stehen im Stau. Und zwar tagtäglich.

Wie konnte es in Mailand soweit kommen?
Durch das Fehlen von Planung und Weitsicht. Die Entwicklung lief nie in kontrollierten Bahnen, immer im Namen der Freiheit und der Wirtschaft. Mittlerweile realisiert auch die ansässige Industrie, dass sie nicht so arbeiten kann, wie sie arbeiten sollte.

Im internationalen Vergleich sind die Schweizer Städte sehr klein. Trifft das auch auf das Verdichtungsproblem zu – oder gelten die Überlegungen ungeachtet der Grösse einer Stadt?
Das Kriterium ist nicht die Grösse einer Stadt, sondern das Verhältnis zwischen Agglomeration und Landschaft. Im Grunde ist die Verdichtungs-Diskussion auch für jedes Dorf gültig.

Sie würden also um jede Kommune einen Kreis ziehen und sagen: Innerhalb wird verdichtet gebaut, ausserhalb wird frei gelassen? Ja, genau so.  Das hätte letztlich zur Folge, dass die Dörfer und Städte irgendwann fertig gebaut wären.
Nein: Würde die Situation eintreten, dass ein fix definiertes Stadtgebiet hoch verdichtet und völlig ausgereizt ist, könnte oder müsste man eine Stadterweiterung in Erwägung ziehen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Stadterweiterungen. Aber ich bin ein Gegner von unnötigen und vor allem von ineffizienten Stadterweiterungen. Tatsächlich ist das Potenzial der Verdichtung so gross, dass die Stadtgebiete wohl nicht allzu schnell ausgereizt wären.

Verdichtung wird häufig auf die Floskel «in die Höhe statt in die Breite bauen» reduziert. Was halten Sie von dieser Formel?
Ich bin dafür, dass man nicht zu sehr in die Breite baut. Aber die Frage der baulichen Dichte ist zu komplex, als dass man ihr immer nur mit grösstmöglicher Höhe beikommen könnte. Für jede Stadt und für jedes Quartier muss neu abgewogen werden, welche Strategie der Verdichtung angemessen ist.

Vielen leuchtet es nicht ein, weshalb sehr grosse Höhe bei gleicher Grundfläche nicht zu mehr Dichte beitragen soll.
Die Schweizer Gesetze schreiben bei Hochhäusern so grosse Abstandsflächen vor, dass man damit im Regelfall nicht mehr Dichte erreicht, als mit fünfgeschossigen Bauten. Bürohochhäuser kann man aufgrund von Ausnahmeregelungen etwas dichter stellen. Aber auch davon bin ich nicht begeistert.

Weshalb?
Würde man den Gedanken der Büroverdichtung konsequent weiterführen, käme man dorthin, wo etliche ausländische Städte schon angelangt sind: Bei reinen Büro-Quartieren. Das sind unwirtliche Orte, zumindest nach 17 Uhr, weil sich dann niemand mehr dort aufhält. Das möchte ich den Schweizer Städten nicht wünschen.

Warum hält sich das Bild des Hochhauses als Verkörperung der Dichte trotzdem so hartnäckig?
Das Hochhaus ist ein Symbol. Ich halte Symbole für wichtig, auch in der Architektur der Stadt. Aber Symbole sind Symbole, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das Hochhaus als Allheilmittel zu sehen, das all unsere Verdichtungsprobleme löst, ist naiv.

Hochhäuser sind auch Denkmäler, die ihre Strahlkraft in der Schweiz nicht zuletzt durch ihre Seltenheit gewinnen. Glauben Sie, der Trend zum Hochhaus und zur Inszenierung durch das Hochhaus flacht ab, je mehr Hochhäuser es gibt.
Nein. Jedes neue Projekt wird noch etwas höher hinaus wollen, noch auffälliger, noch mächtiger sein wollen. Diese Art von irrationalem, teilweise auch etwas einfältigem Wettbewerb reisst nie ab.

Ihre Berufskollegen mischen da sicher nicht ungern mit. Wer baut schon nicht gerne die höchsten Gebäude des Landes.
Niemand, natürlich. Insgesamt sind die Hauptmotoren hinter der Hochhaus-Entwicklung aber die Bauherren. Unternehmen, die sich ein Statussymbol erstellen lassen. Deshalb werden Hochhäuser in der Regel auch nach Unternehmen benannt. Kurios wird das, wenn ein Hochhaus, das den Namen einer Firma trägt, plötzlich einer anderen Firma gehört. So geschehen etwa mit dem PanAm Building in New York, das von Sony übernommen wurde.

Hochhäuser sind also kein Allheilmittel, sie sind irrational, bloss Statussymbole. Können Sie dennoch einen guten Grund dafür nennen, weshalb Hochhäuser gebaut werden sollen?
Hochhäuser brauchen sehr grosse Erschliessungskerne, viele Aufzüge, erhöhte Feuersicherheitsmassnahmen. Die Konstruktion ist aufwendig und teuer, die interne Kommunikation zwischen den Geschossebenen ist schwierig und meistens schlichtweg inexistent. Deshalb nein: Ich kann keinen vernünftigen Grund nennen, weshalb Hochhäuser gebaut werden sollten. Aber unvernünftige Gründe sollten wir auch ernst nehmen und akzeptieren – zumindest gelegentlich.

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

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