Der nachhaltige Denker

Architekt Bob Gysin lebt, was er proklamiert: Vor zehn Jahren ist er mit seinem Büro von der Agglomeration in die Innenstadt gezogen. Und den Erfolg seines Büros, Bob Gysin + Partner BGP, das europaweit als führend im Bereich nachhaltiges Bauen gilt, verbucht er als einen des Kollektivs. Alles andere wäre nicht nachhaltig. (die baustellen Nr. 04/2010)

Vor einiger Zeit stellten wir einer Architektin folgende Frage: «Was werden Archäologen in 5000 Jahren über unsere heutigen Bauherren und Architekten sagen, wenn sie Überreste von Siedlungen unserer Zeit freilegen?» Wie würden Sie darauf antworten?
Aus einer derart grossen Distanz werden die Archäologen möglicherweise sagen, wir bauten noch genau gleich, wie schon 2000 Jahre davor.

Sie lägen damit falsch.
Römer bauten Stein um Stein – teilweise auch mit Vorfabrikationen, die dann vor Ort geschickt zusammen geführt wurden. Wenn wir uns das vor Augen führen, sind wir heute wirklich nicht wahnsinnig viel weiter. Betrachtet man etwa die Autoindustrie, findet dort die Entwicklung auf einem sehr viel höheren Niveau statt.

Ihr Befund muss Architekten und Bauleute frustrieren.
Ich betrachte das nicht als Frust, sondern als Aufforderung und Ansporn, in der Entwicklung weiter zu gehen. Ich bin seit rund 30 Jahren in der Branche tätig – und natürlich wurden in dieser Zeit einige Fortschritte gemacht.

Wie können weitere Fortschritte realisiert werden?
Um die Entwicklung weiter zu treiben, wäre es wünschenswert, dass interdisziplinär stärker zusammen gearbeitet würde. Die Planer, vor allem die Architekten, aber auch die Ingenieure, sollten sich nicht mehr als die alleinigen Krieger verstehen, sondern alle weiteren Fachleute, vom Physiker über den Haustechniker bis hin zum Handwerker, stärker mit einbeziehen.

Wie lässt sich das in der Praxis umsetzen?
Es setzt das grundsätzliche Vorhandensein einer entsprechenden Haltung voraus. Wenn man überzeugt ist, dass Vertreter der verschiedenen Disziplinen allesamt intelligente Ideen beisteuern können – und man daraufhin all diese Vertreter an einen Tisch bringt – kann Unglaubliches entstehen.

Weshalb wird eine solche Zusammenarbeit heute noch selten praktiziert?
Es gibt Gewohnheiten. Und man weiss, wie schwierig es ist, aus alten Gewohnheiten auszubrechen. Daneben gibt es aber auch die berufliche Erziehung, die an Schulen stattfindet. Doch dort entwickelt sich bereits eine etwas andere Denkhaltung. Es geht stärker darum, und muss noch stärker darum gehen, gemeinsame Ziele zu definieren und diese zu erreichen.

Im Januar haben Sie an der Swissbau einen bemerkenswerten Satz gesagt: «Immer mehr Menschen, Gott sei Dank, ziehen in die Stadt.» Weshalb sehen Sie diese Entwicklung als positive an?
Wir haben ein ziemlich grosses Problem, dessen man sich noch nicht in allen Teilen der Gesellschaft wirklich bewusst ist: Wir haben ein Klima-Problem. Durch das sich zuspitzende Wasserproblem wird es etwa für Bauern schwieriger, das Land zu bewirtschaften. Der enorme Preisdruck von Grosskonzernen in der Nahrungsmittelindustrie verschärft den Existenzkampf der Bauern zusätzlich. Folglich bekommen sie für ihre Produkte kaum mehr genug Geld, was sie früher oder später in die Stadt treibt. Dieser Umstand führt, vielleicht nicht in der Schweiz, sicher aber in ausländischen Mega-Citys, zu grossen sozialen Problemen, auf die man grösstenteils nicht vorbereitet ist.
Wenn man nun eine etwas stärkere Konzentration in den Städten vordenken und dann fördern würde, hätten wir ausserhalb von Städten wieder etwas mehr Land, das nicht bewirtschaftet und auch nicht bebaut würde. Das Resultat wären klarere Abgrenzungen zwischen Land und Stadt, woraus eine Reihe von Vorteilen entstehen könnte. So müssten etwa arbeitstätige Menschen nicht mehr täglich lange Pendlerwege zurücklegen. Zudem produzieren mehr Menschen im Stadtgebiet eine Atmosphäre, die das Leben spannend macht. Und nicht zuletzt führt das Vorhandensein von mehr Menschen im Stadtraum auch zu einer grösseren sozialen Kontrolle. Offene Kriminalität geschieht tendenziell dort, wo wenig Betrieb ist. Ich würde meinen, das sind allesamt spannende Optionen.

Mehr Menschen auf gleich grossem Raum konzentrieren. Das Thema heisst Verdichtung.
Seit mindestens 100 Jahren beansprucht bei uns jeder einzelne laufend mehr Platz. Angesichts dieser Entwicklung ist die Verdichtung einerseits eine Herausforderung, andererseits bietet sie aber die Chance, etwas intelligenter zu bauen als bisher. Das Thema muss heute einfach sein, den verfügbaren Platz besser zu nutzen.

Dazu sind nicht alle bereit. So kam in Zürich vor einigen Monaten die Volksinitiative «40 Meter sind genug» zustande, wurde aber an der Urne abgelehnt. Können Sie nachvollziehen, wie man eine solche Forderung überhaupt aufstellen konnte?
Nein. Aber ich kann Gefühle nachvollziehen, die aus einer falschen Informationspolitik hervor gehen können. Denn mangelhafte Information ist der Nährboden diffuser Ängste. Deshalb soll festgehalten werden, dass Verdichtung immer auch sozialverträglich sein muss. In einer verdichteten Stadt soll gut und fröhlich gelebt werden, soll es grosszügige öffentliche und private Aussenräume geben sowie Sonneneinstrahlung. Verdichtung kann nicht durch die Einschränkung elementarster Bedürfnisse erfolgen. Das wäre nicht nachhaltig gedacht.

Womit wir bei Ihrem grossen Thema angelangt wären: der Nachhaltigkeit. Was verstehen Sie unter dem Begriff?
Grundsätzlich setzt er sich aus verschiedenen Aspekten zusammen, was allerdings nicht meine Erfindung ist. Es geht um Ökologie, anhaltende Wirtschaftlichkeit, Nutzungstauglichkeit und Dauerhaftigkeit, aber auch um qualitätsvolle Architektur. Ein Haus einfach besser zu isolieren, führt also noch lange nicht zu einem nachhaltigen Beitrag im umfassenden Sinne.

Inwiefern muss ein Architekt anders vorgehen als bisher, wenn er nachhaltig bauen will?
Die Art und Weise, wie man an eine Aufgabe heran geht, ist sehr individuell. Aber grundsätzlich ist es auch hier eine Frage der Haltung. Will ich das? Will ich wirklich in diese Richtung denken? Natürlich ist dazu auch eine Menge Wissen notwendig. Aber das wird heute an der ETH sowie auch an den Fachhochschulen wunderbar gelehrt.

Wächst also eine neue Architekten-Generation heran, welche diese Denkhaltung von Anbeginn ihrer Karriere in sich trägt?
Ich hoffe es. Dabei muss allerdings gesagt sein, dass die «alte» Denkweise nicht nur schlecht war. Man hat beileibe nicht alles falsch gemacht. Aber wir haben heute ein neues Bewusstsein und dadurch Erkenntnisse über neue Probleme, denen man sich stellen muss.

In der Ausbildung gibt es einen steten Konflikt zwischen Universitäten und Fachhochschulen. Wie sieht das bei den Architekten aus?
Aus der Entwicklung der Fachhochschulen ist zeitweise eine gewisse Unsicherheit entstanden. Die Fachhochschulen schufen zahlreiche neue Studiengänge und orientierten sich innerhalb bestehender Studiengänge neu. Weil man zu den Universitäten aufschliessen wollte, ist in der Architektur auf Fachhochschulstufe der Entwurf anstelle der Baukonstruktion zum Hauptthema geworden. Dadurch entstand eine seltsame Übergangsphase, in welcher sich die Fachhochschulabgänger stark auf den Entwurf konzentrieren wollten, die ETH-Abgänger allerdings stärker auf die Ausführung. Das haben wir in der Praxis gespürt, mittlerweile hat es sich allerdings eingependelt.

Wenn Sie jemanden anstellen, ist die Frage nach Fachhochschule oder ETH ein Thema?
Nein, überhaupt nicht. Es war auch nie ein Thema für mich. Von mir aus kann einer auch gar nichts studiert haben, solange er gut ist, in dem, was er tut. In der Architektur gibt es durchaus Elemente, die man sich autodidaktisch aneignen kann. Ein guter Architekt ist letztlich nicht gut, weil er aus dieser oder jener Schule kommt. Natürlich prägen die Schulen, keine Frage, aber noch mehr als die Schule prägen Vorbilder, Vorgesetzte oder Kollegen, bei denen und mit denen man gearbeitet hat.

Die Praxiserfahrung ist also entscheidend?
Ja. Das beginnt schon mit der Auswahl des ersten Praktikums. Ich halte es für entscheidend wichtig, welchen Weg man bei dieser Wahl einschlägt. Geht man in ein eher technisch orientiertes Büro, oder in eines, in welchem der Entwurf vertieft wird?

Technik oder Entwurf: ein «entweder oder»?
Natürlich ist es miteinander verknüpft. Zu uns allerdings kommen Praktikanten hauptsächlich, weil sie den Entwurf vertiefen wollen. Und wir, die wir versuchen, Architektur und Nachhaltigkeit unter einen Hut zu bringen, merken natürlich, dass bei den Praktikanten ein grosses Interesse besteht, sich in diesem Gebiet weiter zu entwickeln.

Es ist also ein spürbares Interesse an Nachhaltigkeit vorhanden bei jungen werdenden Architekten?
Ja. Zumindest jene, die bei uns ein Praktikum machen wollen, wählen unser Büro bewusst, um sich mit der Fragestellung auseinander zu setzten, wie überdurchschnittlich gute Architektur, gleichzeitig nachhaltig gestaltet werden kann.

Sie sind ein überzeugter und auch vehementer Verfechter des nachhaltigen Bauens. Lehnen Sie Projekte ab, die nicht Ihrer Grundhaltung entsprechen?
Ja. Üblicherweise wird man als Architekt allerdings nicht einfach so mit Aufträgen überhäuft. Wir erlangen mehr als 90 Prozent unserer Aufträge durch Wettbewerbe. Um zu entscheiden, an welchen Wettbewerben wir teilnehmen wollen, haben wir einen Filter aus zehn Kriterien formuliert. Eines davon heisst Nachhaltigkeit.

Das heisst, ihr Büro engagiert sich für kein Projekt mehr, das nicht der Nachhaltigkeit verpflichtet ist?
So ist es. Dabei geht es nicht um kleinste Details. Entscheidend ist, dass bei einem Projekt grundsätzlich in Richtung Nachhaltigkeit gedacht wird.

Ist dieses «in Richtung Nachhaltigkeit denken» etwas, das der Architekten-Zunft allgemein etwas Mühe bereitet?
Ein Stück weit kann man das sagen. Aber es gibt auch ausserhalb der Architektur eine Menge Leute, denen diese Denkhaltung schwer fällt. Denn wenn der Mensch eine Bedrohung erkennt, mit der er in weiter Zukunft konfrontiert werden könnte, nimmt er das nicht so ernst. Er tut es viel eher, wenn eine unmittelbare Bedrohung vorliegt, ein Brand oder ein Erbeben beispielsweise. Bei den Architekten stelle ich aber mittlerweile doch ein gewisses Umdenken fest. Dass unser Büro in dieser Sache eine Pionierrolle einnimmt, mag mit unserer Denkhaltung zusammenhängen, mag allerdings auch reine Glückssache sein, weil wir vor einigen Jahren mit einem innovativen Projekt den Wettbewerb um das EAWAG Hauptgebäude in Dübendorf gewonnen haben.

Dieses EAWAG-Gebäude, ein mehrfach preisgekrönter «Nullenergie-Bau», hat internationale Beachtung gefunden. War dieses Projekt die Initialzündung in Sachen Nachhaltigkeit für Sie und Ihr Büro?
Nein. Die entsprechende Denkhaltung hat sich bei uns schon früher eingestellt. Daraus ist ja auch erst der Wille entstanden, am EAWAG-Wettbewerb teilzunehmen. Die Initialzündung hat bei einem Zweifamilienhaus stattgefunden, was gegen 30 Jahre her ist. Die progressive Bauherrschaft hatte nicht übermassen Geld zur Verfügung, allerdings von Haus aus etwas Holz, sowie den Wunsch, etwas Gutes, Solides zu bekommen. Angesichts einer solchen Ausgangslage beginnt man automatisch, andere Denkwege einzuschlagen. Das Haus, welches daraus hervor ging, wurde viel publiziert und macht den Anschein, als entstamme es der heutigen Zeit. Es besteht eigentlich aus zwei Häusern, zwei stabilen Körpern, dazwischen mit Holz verbunden. Der komplette Aufbau besteht aus vorfabriziertem Holz. Auf der Südseite ermöglichen grosse Fenster solare Gewinne. Auf der Nordseite sind dagegen nur sehr kleine Fenster vorhanden. Durch die Sonneneinstrahlung wird ein günstiger Schieferboden erwärmt, ein unverkleidetes Cheminée gibt die Wärme unmittelbar an die Umgebung ab. Neben ökologisch nachhaltigen Überlegungen sind in diesen Bau aber auch sozial nachhaltige Ideen eingeflossen: Es gibt einen gemeinsamen Hinterhof, vor dem Haus abgetrennte Sitzplätze sowie im Obergeschoss gänzlich separate Terrassen. Es sind also alle Stufen von Privatheit auslebbar. Rückblickend würde ich sagen, jenes Haus war die Initialzündung.

Sagen Sie, betrachten Sie den Architekten als Künstler oder als Handwerker?
Als beides. Ein Architekt muss einen gestalterischen Willen haben sowie die Lust, sich mit konstruktiven Belangen auseinander zu setzen. Ein Handwerker ist er nun im Kleinen, etwa beim Modellbau. Selbst habe ich übrigens einmal ein Praktikum auf dem Bau gemacht, habe ein paar Wochen lang Eisen umher geschleppt.

Hat es Ihnen geschadet?
Überhaupt nicht.

Ganz im Gegensatz zur Baustellen-Realität gibt es in der Architektur-Szene einen ausgewachsenen Starkult. Was halten Sie davon?
Das ist doch ein gesellschaftliches Phänomen. Heute werden Menschen aufgrund sehr weniger Merkmale enorm hoch stilisiert. Das gilt für Manager, Anwälte oder für wen auch immer. Architektur ist etwas, das Menschen täglich konsumieren müssen, ob sie das wollen oder nicht. Unsere Arbeit befindet sich an einem Ort, wo sie permanent beurteilt wird – in der Öffentlichkeit nämlich. Vom Starwesen als solches halte ich dennoch nichts. Das Beste ist es, wenn man möglichst viel Gutes produziert.

Das Werk soll für sich sprechen?
Ja. Dass man als Mensch dabei automatisch ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt, halte ich für normal und nicht schlecht. Aber die absolute Star-Spitze zu erreichen, halte ich dagegen für nichts Erstrebenswertes.

In einem Teil des Hauses, in welchem Ihr Büro beheimatet ist, betreiben Sie eine eigene Galerie für zeitgenössische Kunst. Beabsichtigen Sie damit, den kreativen Horizont Ihrer Mitarbeitenden zu erweitern?
Ich würde nicht von Absicht sprechen. Aber in der Wirkung ist es sicher so. Die Mitarbeitenden schätzen es sehr, wenn sie zu einem Kaffe oder über Mittag durch die Galerie laufen und sich mit zeitgenössischer Kultur auseinander setzten können. Als Effekt daraus wird in Pausen weniger über Klatsch oder Sport gesprochen, sondern mehr über allgemeinere, kulturelle Themen. Das ist allerdings nicht von mir gesteuert, sondern passiert selbstständig – und ich halte das für positiv.

Eine Galerie ist zwar noch kein Museum. Aber dennoch: Weshalb träumen derart viele Architekten davon, einmal ein Museum bauen zu können?
Das ist wohl eher Klischee als Realität. Ich würde es nicht an einem Museum festmachen, aber ich glaube, dass jeder Architekt Lust hat, Räume zu bauen, die über viel Öffentlichkeit verfügen. Öffentliche Gebäude zu bauen, ist halt spannender als der Wohnungsbau, in welchem die Themen eher repetitiv sind.

Wünscht sich der Architekt also, dass sein Werk nicht nur von aussen beurteilt, sondern auch von innen erlebt wird?
Das mag schon sein. Aber ich würde Architekten nicht als Egomanen darstellen wollen, die nur für sich selbst bauen. Denn auch das ist ein Klischee. Natürlich muss ein Architekt überzeugt sein von dem, was er baut. Aber Architektur ist nicht nur Selbstverwirklichung.

Welche Tätigkeit inspiriert Sie?
Ich denke, die meisten Architekten sind visuelle Menschen. Das heisst, man ist aufmerksam, nimmt einfach wahr, was einem begegnet. Und manchmal leidet man auch unter dem, was einem begegnet.

Ist es eine Belastung, als Architekt stets von Architektur umgeben zu sein?
Nun, man muss sich ja nicht alles ganz genau anschauen.

Beat Matter

Beat Matter

Ich schreibe. Und ich fotografiere. Beides fliessend. Für Medien, Unternehmen, Stiftungen, Verbände, Vereine und Private.

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